Seeräuberkapitän a. D.
In den heutigen unsicheren und gewalttätigen Zeiten, geschieht es schnell, daß man als ahnungsloser Passant mit einer Straßenbande konfrontiert wird. So geschah es auch mir, als ich im vergangenen Sommer im Dorf D... unterwegs war.
Ich befand mich also inmitten des Dorfes, und wollte gerade in Richtung des Dorfplatzes in eine Gasse abbiegen, als ich plötzlich auf die berüchtigte Straßenbande stieß. Es handelte sich um etwa fünfzehn keulenschwingende, furchterregende Schlägertypen, die da geradewegs auf mich zukamen. In früheren, ähnlichen Situationen bog ich sofort in eine Seitengasse ein, sobald sich mir solch ein Trupp näherte, doch hier in der Dorfgasse ging das so nicht. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder umkehren oder an ihnen vorbei. Ich überlegte während der nächsten Schritte (zwischen mir und dem Trupp waren es vielleicht noch fünfzehn Meter), welche Möglichkeit ich wohl in diesem speziellen Fall wählen sollte. So entschied ich mich für die Erste der beiden, denn an den Männern vorbei konnte ich nicht. Erstens mußten sie beim Einbiegen in die Gasse wohl sofort meinen Schreck bemerkt haben; Zweitens sah ich so normal aus, daß dieser Umstand bei ihnen mit Sicherheit den Grund für einen Angriff ausgelöst hätte, denn ich trug weder eine Keule, noch sah ich mit meinem von der Natur wenig begüterten Körperbau gefährlich genug aus, um an ihnen ungeschoren vorbeizukommen; und Drittens war die Gasse so eng, daß mir die Keulenmänner hätten Platz machen müssen, was ich für sehr unwahrscheinlich hielt. So entschloß ich mich ganz spontan für die Umkehr aus der berüchtigten Gasse. Dabei wandte ich einen oft von mir gebrauchten Trick an, um meine Umkehr so unauffällig wie möglich zu gestalten: Ich warf also einen sehr auffälligen Blick auf meine Uhr, schlug mich gleichzeitig mit der anderen Hand auf meinen Kopf, um so meine Vergeßlichkeit zu demonstrieren und ging in normalem Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Natürlich setzten sich die Keulenmänner sofort in Bewegung, denn sie ließen sich von meinem Trick nicht überzeugen. Also rannte ich los und versuchte meinen Vorsprung, der ja von Anfang an schon zehn Meter betragen hatte, noch weiter zu verbessern, was mir auch gelang, denn ich hatte den Vorteil, kleiner und flinker zu sein, als die bis an die Zähne bewaffneten, großen und dicken, mit vielen Muskeln an den Oberarmen bepackten Keulenmänner. So gewann ich schnell einen Vorsprung und jagte durch zahllose Gassen der lärmenden Menge davon. Doch die Gasse, in der ich schließlich nach langer Jagd, schon ganz außer Atem angelangte, bot keinen weiteren Ausweg und mündete in einiger Entfernung in eine Sackgasse, womit ich vor dem gleichen Problem wie vorhin stand, nur mit dem Unterschied, daß mein "Vergeßlichkeitstrick" jetzt mit Sicherheit noch unglaubhafter erscheinen würde, weshalb ich diesen Gedanken auch gleich wieder verwarf.
Da erinnerte ich mich zum Glück an das Wrack eines alten Busses, das schon seit Jahren in der bevorstehenden Sackgasse abgestellt war. Es war einer jener Busse, wie sie vor etwa zwanzig Jahren im Linienverkehr eingesetzt wurden; sie bestanden aus mehreren, voneinander abgetrennten Abteilen, mit jeweils etwa sechs Sitzplätzen pro Abteil. Der erwähnte Bus war sehr heruntergekommen, seine rote Lackfarbe schon von großen Rostflecken durchzogen, Türen und Fenster eingeschlagen, und die Sitze in seinem Innern waren durch Müllhaufen ersetzt. Ich wußte, daß die Abteile im Innern des Busses das ideale Versteck bieten würden, um das Zusammentreffen zwischen mir und den Keulenmännern so lange wie möglich hinauszuschieben. Also zögerte ich keine Sekunde und stieg durch eines der eingeschlagenen Fenster und begann einen Plan zu schmieden.
In einem der Abteile lag ein fast mannshoher Lumpenhaufen, auf dem ich mich sogleich warf. Dann kramte ich in dem Haufen und fand zu allem Glück ein altes, abgetragenes und mir passendes Hemd, das ich schnell anzog. Mein Hemd versteckte ich inmitten des Haufens, auf dem ich mich nun sehr bequem einrichtete, während ich draußen schon die Männer herannahen hörte. Ich nahm nun eine sehr lässige Haltung ein und reckte meinen Hals, um meinen erst kürzlich erworbenen Bart besser zum Vorschein zu bringen; dann verstellte ich meine Stimme, um so glaubhaft und ernst wie möglich zu klingen.
"Wer da?", rief ich mit tiefer Stimme. Der Bandenchef betrat das Abteil und nannte leicht verunsichert seinen Namen. Darauf trat einer seiner Bediensteten heran, musterte mich mit kritischem Blick und begann in dem Lumpenhaufen auf dem ich saß, herumzuwühlen. Nach einigem Wühlen fand er doch tatsächlich mein Hemd, erkannte es jedoch zum Glück nicht wieder, da ich es auch zuvor sehr zerknüllt hatte, und so schob er es wieder in den Haufen zurück. Ich tat, als würde mich seine Handlungsweise nicht im Geringsten beeindrucken und nahm wieder meine bequeme Stellung ein.
Endlich trat der berüchtigte Bandenchef an meinen Haufen heran und fragte, wer ich sei. Ich antwortete wieder mit tiefer Stimme: "Ich bin ein Seeräuberkapitän außer Dienst und habe mir hier mein Lager eingerichtet."
Mein Titel sorgte sofort für die nötige Achtung mir gegenüber, und der Bandenchef schien so etwas wie eine Entschuldigung in seinen Bart zu nuscheln. Sofort wies er seine Kumpane an, für etwas Ordnung im Bus zu sorgen, während er selbst in einer Ecke sich häuslich einrichtete. Ihn schien meine unerschütterliche Ruhe sehr zu beeindrucken, und der Gejagte, der ich noch vor wenigen Minuten war, kam nicht über seine Lippen. Viel mehr schien er sehr demütig - angesichts meines hohen Titels - zu sein und legte das erste Mal seit Betreten des Busses seine große Holzkeule beiseite.
So begann ich mich nach einiger Zeit sehr sicher zu fühlen in meiner Rolle als Seeräuberkapitän und ich fing an, auch etwas Seemannsgarn zu spinnen und es dem Bandenchef als spannende Geschichten aufzutischen.
So vergingen tatsächlich einige Tage, die ich auf dem Lumpenhaufen zubrachte, von dem ich mich nur erhob, um meine Notdurft zu verrichten. Das Essen wurde mir dreimal am Tag an meinen Haufen gebracht, wofür extra einer der Bediensteten angestellt wurde. Offenbar wurde in einem der Abteile eigens dafür eine Kochstelle eingerichtet. Ich ließ es mir also gut ergehen, während ich als einzige Gegenleistung für das warme Essen, meine Geschichten zu erzählen hatte, was mir wahrlich nicht schwerfiel. Dadurch gewann ich auch allmählich das Vertrauen des Bandenchefs, der sich mir gegenüber sehr herzlich verhielt, während er seine Bediensteten in scharfem Befehlston zum Holz holen und Essen kochen anfeuerte.
Schließlich, am fünften Tag, verabschiedete ich mich mit den Worten: "Ich muß weiter, einfach in die Welt hinaus ..."; und so ging ich langsamen, ehrwürdigen Schrittes davon, froh, durch meinen wahrlich genialen Einfall, mich als Seeräuberkapitän auszugeben, mein Leben gerettet zu haben.
© Mario Höll, 17. Juli 1998
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Die große Maschinerie
Die neue Weltregierung war nun schon zehn Jahre an der Macht, als der große Plan, die Bevölkerung miteinander zu verbinden, wie sie es nannten, in die Tat umgesetzt werden konnte.
"Der Plan" bestand darin, jeden Menschen auf der ganzen Erde an einen anderen Ort zu versetzen, um so Rassenstreitigkeiten, das Armutsproblem und alle sonstigen Konflikte, die unweigerlich unter einzelnen Staaten bestehen, ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Dies bedeutete, die Weltbevölkerung so zu mischen, daß eine multikulturelle Gesellschaft entsteht und eine Sprache sich entwickelt. Dadurch, daß jeder Mensch sich ab diesem Zeitpunkt in einem fremden Land befindet, unter lauter fremden Menschen, ist er gezwungen sich in die neue Weltordnung einzufügen, "Die eine Sprache" zu lernen und "Die eine Kultur" sich anzueignen. Jegliche Gruppenbildung wird von Anfang an dadurch unterbunden, daß auch die Familien getrennt und jeweils in verschiedene Länder oder gar Kontinente beordert werden, ohne voneinander zu wissen.
Was zuerst als grausame Diktatur dargestellt wurde, begann man nunmehr nach zehn Jahren als der "Segen der Menschheit" auszurufen. Am 18. Februar schließlich, kurz nachdem sich die große Maschinerie in Bewegung gesetzt hatte, bekam auch ich meine Zuteilung, daß heißt den Namen des Ortes, der jetzt meine neue "Heimat" werden sollte. Es handelte sich in meinem Falle um einen mir unbekannten Ort in Australien. Einzelheiten wurden nicht bekanntgegeben, aus Gründen der Geheimhaltung. Man wollte damit erreichen, daß Erstens ich selbst nicht wußte wo genau ich dann bin, und Zweitens meine Angehörigen, so daß sie mir nicht etwa folgen können. In einer Woche also sollte auch ich die "Reise" antreten. Bis dahin mußte ich alle Formalitäten geregelt haben.
Die "Anordnung" besagte, daß alle Wohnungen und die persönliche Habe unangetastet zurückbleiben mußte, und daß jeder nur das mitzunehmen hat, was er gerade auf dem Leib trug. Der Weg zum "Bestimmungsort" würde nicht weit sein und auch nicht lange dauern. Jeder würde sicher an seinem Ort ankommen, ob er es wolle oder nicht. Die Maschinerie würde den Transport besorgen, und selbst bis Australien würde es nicht weit sein.
Vor vielen Jahren schon hatte man begonnen, die Maschinerie zu errichten, sie bestand aus einem unterirdischen Netz, jenem gigantischen Getriebe, das Millionen Zahnräder in sich vereint, um Kontinente, Ländereien und Inselgruppen miteinander zu verbinden, und das auf schnellstmöglichem Wege. Genaueres freilich wußte keiner so recht, schließlich hatte noch kein "Normalsterblicher" diese Wundermaschine mit eigenen Augen gesehen, und alles unterlag strengster Geheimhaltung. Hinlänglich bekannt ist nur, daß wer immer sich versuchte der "Neuen-Welt-Regierung" zu widersetzen, auf mysteriöse Weise verschwand und nimmermehr gesehen ward.
Der Vorgang der "Neuglobalisierung" war also bereits in vollem Gange und nicht mehr abzuwenden. Widerstandsgruppen lösten sich binnen kurzer Zeit auf, weil über Nacht ihre Anführer auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Die Maschinerie hat sie aufgesaugt, sagten die Leute dann. Tatsächlich verschwanden in kurzer Zeit auch sämtliche meiner Verwandten und Bekannten, sie erhielten ihre Zuteilung, und ich habe sie nie mehr wiedergesehen.
Das Bevölkerungsbild selbst bei mir auf dem Lande hatte sich in kurzer Zeit sehr gewandelt. Die Häuser in der Nachbarschaft bewohnten jetzt fremde Menschen, zumeist Ausländer: Afrikaner, Chinesen und Inder, bunt gemischt aus aller Herren Länder, aber keine richtigen Familien. Kinder wurden von neu gegründeten Familien aufgenommen, die sich eigens zu diesem Zwecke neu "formiert" hatten.
Am zweiten Tag nach der Ankunft meines Zuteilungsbefehls zogen auch in mein Haus fremde Leute ein, die sich erst hier vor Ort kennenlernten, und zwei Tage später traf auch ein Kind ein, das ab jetzt dieser neuen "Familie" angehören sollte.
Schon damals, als die neue Weltregierung an die Macht kam, hatte ich bei all dem kein gutes Gefühl. Ich war immer der Meinung, daß dies nicht richtig sei. Doch die meisten Menschen waren anfangs glücklich und engagierten sich für die neue Regierung, die ihnen das Heil versprach wie jede andere Regierung vor ihr auch. Sie waren begeistert von dem Neuen, das in der Zukunft lag, so daß sie das Hier und Heute vergaßen. Und so übersahen auch sie die geheimnisvolle Aura, die die neue Weltregierung umgab.
Obwohl das Volk nicht wußte, wer der eigentliche Führer der neuen Ära war, wurde es von dessen Propaganda förmlich überrollt, und die Meisten schrieen ihm ihr "Ja" entgegen, ohne zu wissen, daß der ganze Untergrund schon durchwoben war mit der neuen Macht. Dann wurde schnell Wirklichkeit, was die meisten nur für pure Utopie gehalten hatten. Abgelenkt durch den scheinbaren Reichtum der unter das Volk kam, verschlossen auch die paar Menschen, die noch sehen konnten ihre Augen im trügerischen Glückstaumel. Doch ihr Glück sollte nicht lange anhalten, nichts konnten sie von ihren Gütern mitnehmen zu ihrem Bestimmungsort als das, was sie auf ihrem Leib trugen. Ja nicht einmal das Wenige, das sie vor dem besessen hatten blieb ihnen, jetzt war ihnen alles fremd. Weit weg waren die Ihrigen, und das Wort "Heimat" war ein Fremdwort geworden.
Niemand wollte zuerst die Sache mit dem Bestimmungsort glauben, und die es glaubten, verdrängten es. "Uns wird es schon nicht betreffen", dachten sie bis zu dem Tag, an dem sie ihre "Persönliche Mitteilung" bekamen, mit dem Ziel ihres Bestimmungsortes. Manche setzten ihrem Leben ein Ende; doch die meisten klammerten sich an die Hoffnung, daß dies nur eine vorübergehende Sache sei.
Nun sitze auch ich hier in dem kleinen Zimmer, das mir noch von meinem Haus geblieben ist und warte auf meine Deportation. Ich weiß nicht warum ich diese Zeilen überhaupt zu Papier bringe, aber vielleicht glimmt auch in mir noch ein kleiner Funke Hoffnung inmitten des großen Sturmes.
Der 25. Februar, der Tag meiner Deportation war schnell gekommen, und ich verließ mein Zimmer, ich ließ die Tür weit offen stehen, auch dies war jetzt Vergangenheit.
Auf der Treppe begegnete ich fremden Menschen, ich ließ sie achtlos stehen, sie verstanden ja sowieso meine Sprache nicht. Sicher würden sie mein Zimmer gleich in Besitz nehmen, alles war ja obrigkeitlich bis auf das Kleinste geplant. Was hielte mich auch noch hier, dachte ich, die ganze Umgebung war ja nicht mehr dieselbe, der Mensch hatte keine Heimat mehr und keinen Ort der Geborgenheit.
Als ich die nächste Stadt, meine Geburtsstadt erreichte, wie mir befohlen, fand ich diese ebenso verändert vor. Menschen aus aller Herren Länder, die sich alle gleich fremd waren, sowie Zugangsschächte zur unterirdischen Maschinerie prägten das Bild. Die Unterführungen erinnerten an U-Bahnschächte, die massenhaft aus dem Boden hervorgeschossen waren. Ein großer Teil des Lebens schien sich jetzt unter der Erde abzuspielen. Der neue Diktator ist der Herrscher der Unterwelt, dachte ich ironisch. Wer auch immer er war, wie würde man diese, seine Welt lieben können, fragte ich mich immer wieder, und warum ist es nicht schon längst vor vielen Jahren zu einem Aufstand gekommen? Aber die satanischen Mächte, die dieses Weltsystem antrieben, vernichteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte; und die meisten wollten nur ihr Leben retten.
Um 6 Uhr 30 in der Frühe hatte ich die Deportationsstelle erreicht. Es war ein ehemaliges Cafe' in einer belebten Straße, das jetzt als Sammelstelle diente. "Sammeln" hieß in diesem Fall, daß zu unterschiedlichen Tageszeiten, ein oder zwei Personen sich einzufinden hatten, zum Zwecke der Deportation. An der Pforte des ehemaligen Cafes hatten sich zwei Uniformierte postiert, die die letzten Formalitäten erledigten. Ich mußte mich ausweisen, dann wurde ich in das Cafe' geführt, und die Tür wurde hinter mir geschlossen.
An dem einzigen Tisch in der Mitte des Raumes saß ein Mann mittleren Alters, Einheimischer wie ich, auch er schien auf die Deportation zu warten. Sonst befand sich niemand in dem Raum. Wir sprachen wenig als uns die Zeit lang wurde, denn wir mochten nun schon eine Stunde an dem Tisch gesessen haben.
Der Raum selbst bestand über und über aus rustikalen Wand- und Deckenvertäfelungen, unzähligen Nischen und verschachtelten Ecken, die in sehr eigentümlicher Weise mit bizarren Schnitzereien bedeckt waren. Jedenfalls hielt ich es für Schnitzereien, aber es waren keinerlei konkrete Figuren oder Ähnliches zu erkennen, es waren vielmehr unzählige Schnörkel, die den Raum völlig zu überladen drohten, und so übte er eine bedrückende Wirkung auf seine Insassen aus. Um den Tisch in der Mitte des Raumes herum befanden sich mehrere, ebenfalls stark verschachtelte und sehr massiv gebaute Geländer aus dem gleichem Holz wie die Vertäfelungen, so daß, wenn ich es mir richtig überlegte, keinerlei Platz für einen weiteren Tisch in dem Raum gewesen wäre, denn die Geländer füllten allein fast den ganzen Raum aus. Als ich das Cafe' betreten hatte, hatte ich einige Mühe zu dem Mann an dem Tisch vorzudringen.
Das Einzige, was ich dem Mann entlocken konnte war, daß er das gleiche Ziel hatte wie ich und daß er auch auf die Deportation wartete. Dann hüllten wir uns wieder in Schweigen; der Mann wurde offenbar auch das Gefühl nicht los, daß wir die ganze Zeit über beobachtet wurden. Nach ungefähr ein und einer halben Stunde wurde die Stille und das Warten unerträglich, auch von draußen drang kein Laut herein, nur ein gelegentliches Knarren der Holzvertäfelungen war zu vernehmen. Ich lauschte immer tiefer in die Stille hinein und hatte nach einer Weile den Eindruck, daß das Knarren ein rhythmisches Muster aufzuweisen schien.
Und dann begann es plötzlich: Das Knarren wurde immer lauter, der Mann und ich wollten aufspringen, doch es gelang uns nicht. Die verschiedenartigen Geländer und Holzvertäfelungen begannen auf uns zuzurücken. Die Gegenstände, die ich für Schnitzereien gehalten hatte hoben sich plastisch aus den Vertäfelungen heraus und kamen auf uns zu, um uns festzuhalten. Mein Arm wurde plötzlich hochgehoben und von verschiedenen Halterungen aufgenommen. Überall zeigten sich Zahnradartige Gebilde und Gestänge, die jetzt den ganzen Raum ausfüllten, um unsere Körper aufzunehmen. Die Maschinerie war in Bewegung gesetzt. Eine Gegenwehr schien sinnlos, wir waren völlig umgeben vom Räderwerk eines gigantischen Getriebes.
Dann wurden wir vorwärts bewegt, wie es schien aus dem Raum hinaus, ab und zu sah ich auch den anderen Mann im Gewirr der Zahnräder auftauchen, er schien mit mir parallel geführt zu werden.
Nach einer Weile schon wußten wir nicht mehr wo wir waren und wo oben und unten war, es schien dies ein riesiges Labyrinth zu sein, ohne Dimensionen. Unsere Gliedmaßen waren völlig in die Technik integriert, die unsere Körper Stück für Stück vorwärts trieb. Kaum hatte ein Greifer meinen Arm oder mein Bein freigegeben, kam aus der anderen Richtung der nächste, um die Bewegung stets aufrecht zu erhalten. Ab und zu tauchte Licht in dem Getriebe auf, so daß es nie völlig dunkel war; auch wurden uns keine Schmerzen zugefügt, man wollte uns offenbar nicht töten.
Als ich mich ein wenig vom Schrecken erholt hatte, begriff ich: Dieser Vorgang in der Maschinerie mußte sich um die Deportation selbst handeln, man schien uns auf diese Art und Weise transportieren zu wollen, denn wozu sonst diente der ganze Aufwand. Wenn man uns nur töten wollte, hätte man es sicher längst getan. Mit diesen und ähnlichen Gedanken wollte ich mich nun beruhigen, während es stets und ständig weiter ging. Ich rief nach meinem Leidensgenossen, der schließlich aus einiger Entfernung antwortete, es ginge ihm den Umständen entsprechend gut.
Wir wußten nicht, wie lange man uns nun schon so fortbewegte; wir hatten allmählich unser Zeitgefühl verloren und ergaben uns notgedrungen und so gut wir konnten unserem Schicksal.
Plötzlich wurde es über uns hell und die Maschinerie begann uns nach oben zu schieben, wo nach einiger Zeit blauer Himmel sichtbar wurde. Sogleich wurden wir aus der Erde herausgehoben, ohne jedoch befreit zu werden. Die Konstruktion wich jetzt einer Art Förderband, aus dem gleichen Material wie die übrige Maschinerie, die exakt dem holzartigen Werkstoff des Warteraumes glich und sich auch wie jenes anfühlte. Das "Förderband" glich einem Bogen, der aus der Erde herausragte und vielleicht fünfzig Meter weiter wieder in ihr verschwand. Stellenweise war zwischen der Konstruktion die Landschaft zu sehen, und ich sah riesige Felder und Ackerland in der Ferne.
Wir wurden jedoch noch immer auf die gleiche Weise fortbewegt, Gestänge hoben uns hoch, drehten uns und schoben uns vorwärts. Ab und zu landeten wir in einer Art Nische, aus der wir uns selbst heraus bewegen mußten, nur um dann gleich wieder von der Maschinerie weitergebracht zu werden. Es schien, daß man uns nur einen Moment der Luft aussetzen wollte, denn im Innern des Getriebes war es sehr warm und stickig. Die Ausmaße des Systems waren für uns nicht zu erfassen, da es ständig hoch und runter ging, durch Nischen und Gänge, immerfort. Der ganze Planet schien ein einziges Räderwerk zu sein. Was hatten diese Dämonen nur aus der Erde gemacht?!
Es mochte wohl ein halber Tag vergangen sein, vielleicht mehr, als sich vor uns ein für die übrigen Verhältnisse großer Raum öffnete. Er schien völlig leer zu sein als wir ihn betraten. Nach einer Weile setzten wir uns nieder, um ein wenig auszuruhen, vielleicht war dies auch der Zweck des Raumes, auch Nahrung und Wasser wurde uns durch eine Nische zugänglich gemacht.
Als wir uns gestärkt hatten, ging die Prozedur von neuem los, wieder nahmen uns Greifer auf, um uns weiterzutransportieren, nur mit dem Unterschied, daß sich jetzt eine Art Schutzanzug um uns herum schloß und unsere Köpfe in eine Glaskuppel getaucht wurden, in die Sauerstoff geblasen wurde. Alsdann öffnete sich eine Luke, und wir waren völlig von Wasser umgeben. Es war trübes, grünliches Wasser, das uns umschloß und vor uns taten sich große Weiten auf, wenigstens hier unten war es nicht so beklemmend. Außer einem langen Seil, an dem wir uns nun vorwärts hangelten, war nichts weiter zu sehen. Hier waren keine Arme und Zahnräder, die nach uns griffen, wir mußten uns ab jetzt selbst bewegen um hier heraus zu kommen, also schleppten wir uns unter dem großen Wasserdruck weiter, immer an dem Seil entlang, das wohl als Orientierung dienen sollte, denn soweit ich auch nach oben sah, die Wasseroberfläche war nicht zu erkennen.
Wir mochten wohl schon mehrere hundert Meter so gegangen sein, als linkerhand plötzlich eine Mauer auftauchte, an der das Seil endete. Von der Mauer war ebenso wie bei den Wassermassen kein Ende abzusehen, sie war über und über mit Algen bedeckt und schien aus Beton zu bestehen. In einiger Entfernung, am Ende des Seils war eine Leiter zu erkennen, die in die Wand eingelassen war. Das mußte der Aufstieg sein. Also stiegen wir an der Leiter nach oben, bis nach ungefähr fünfzig Metern schließlich Licht an der Oberfläche des Wassers zu erkennen war.
Wir hatten das Land erreicht und kletterten aus dem Wasser. Die Wand, an der wir hochgestiegen waren erwies sich als die Hafenmauer einer Stadt am Meer. Wir waren also auf dem Meeresgrund gewesen, ohne es zu wissen.
An Land gekommen, nahm niemand weiter von uns Notiz, offenbar schienen regelmäßig Deportierte auf diese Weise hier anzukommen.
Die Stadt selbst erwies sich als kaum unterschiedlich von den übrigen. Da ich aber das Ortsschild sogleich fand, das auf meinem Deportationsschein stand (das Einzige was ich bei mir hatte), schloß ich daraus, daß ich mich jetzt in Australien befand. Den örtlichen Uhren nach zu urteilen waren wir nur sechs Stunden unterwegs gewesen, wir wußten jedoch nicht, inwieweit wir die Zeitverschiebung mit einbeziehen sollten.
Wer weiß, ob das überhaupt eine Rolle spielte. Heute brachte uns die große Maschinerie nach Australien, und wer weiß wohin morgen.
Das Leben war rastlos geworden, es stieß uns herum wie ein Blatt im Wind. Wir sind Verschollene im Räderwerk der großen Maschinerie.
© Mario Höll, 18. Februar 1999
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Die Gabe
Seit es Menschen gibt existiert auch der Traum vom Fliegen; und schon immer beobachteten die Menschen die Vögel, wie sie sich mit einer Leichtigkeit in die Lüfte erheben, als wäre da kein Widerstand, dem sie sich entgegenzustellen hätten. Die Lüfte gehörten den Vögeln und der Erdboden den Menschen und den unzähligen Arten von Tieren, von Anbeginn an. Doch jeden Menschen, beim einen stark, beim anderen schwächer, ist der Drang angeboren, von Zeit zu Zeit es den Vögeln gleichtun zu wollen. Wer kennt es nicht, dieses starke Gefühl, welches das Herz höher schlagen läßt, wenn man die Vögel beobachtet, oder dicht an einem Abgrund steht, dieses Kribbeln in den Gliedern, dieser starke Drang nach unermeßlicher Freiheit in den Lüften, davon schweben zu können ohne Grenzen, ohne daß Stock und Stein hinderlich sind? All diese Gefühle scheinen doch geradezu darauf hinzudeuten, daß der Mensch dazu geschaffen sein muß, sich auch die Lüfte zu erobern, daß er nicht beschränkt ist auf den staubigen Erdboden, der ihm am Fortkommen nur allzu oft hinderlich ist.
So bauten die Menschen sich allerlei Hilfsmittel, um sich nun doch in die Lüfte zu begeben, allerlei primitive Apparate, die den Wagemutigen unter ihnen, die sich daran versuchten, allzu oft das Leben kosteten.
Schließlich, Jahrhunderte später, bauten sie Flugzeuge, Luftschiffe und Hubschrauber, und legten so in kurzer Zeit große Stecken zurück. Doch so komplex auch manche Fluggeräte waren, so passierte es doch immer wieder, daß sich solch ein Ding schneller wieder auf dem Erdboden einfand, als es sich mühsam zuvor in die Lüfte erhoben hatte. Ganz das Gleiche ist es ja doch nicht, mußten sich wohl die Vögel denken, während sie sich mit ihrer eleganten Leichtigkeit in die Lüfte schwangen. Doch trotz der vielen Opfer unter den Menschen bestand der Traum fort, das Fliegen dennoch zu beherrschen, auch wenn die Aussicht schwand, dies jemals ohne technische Hilfsmittel zu bewerkstelligen; und auch der Drang bestand fort, dieses Kribbeln in den Gliedern und der unbändige Wunsch, davonschweben zu können.
Dieser unbändige Wunsch und die immerwährende Sehnsucht nach dem Gleiten durch die Lüfte, hafteten auch mir von frühester Kindheit sehr stark an.
Als ich noch sehr klein war, so um die fünf Jahre, stieg ich gerne auf Tische und Stühle und hüpfte herunter, nur um zu sehen, ob ich nicht die Zeit, die vom Absprung bis zum Auftreffen auf dem Boden verstrich, um einen Bruchteil einer Sekunde verlängern könnte. Natürlich war die Erdanziehung stets unbestechlich, was mich sehr traurig stimmte.
So wuchs ich heran, jedoch ohne den Gedanken je gänzlich aufzugeben, eines Tages die Zeit verlängern zu können, denn was in meinen Träumen möglich war, mußte sich doch irgendwie der Realität annähern lassen, in diesem Ausmaß wie in den Träumen freilich nicht, die beständig wiederkehrten.
Während meiner Jugend fand ich mich des öfteren in Grübeleien wieder; und auch die Versuche kehrten wieder, wenn auch heimlich, denn ich wollte nicht, daß mich meine Angehörigen für verrückt hielten. So ging ich oft in den Wald, um dort von einem zu hoch abgesägten Baumstumpf einige Sprünge zu machen, oder ich hüpfte von kleinen Hügeln und sonstigen Erhebungen herunter; selbst vor großen Steinen, die aus den Feldern herausragten, machte ich nicht halt. Ich sagte mir, daß durch viel Übung die Flugdauer doch um einen Bruchteil zu verlängern sei. Mit der Erhöhung der Absprunghöhe konnte ich jedoch nichts weiter erreichen, als daß mir beim Aufprall meine Knie sehr schmerzten.
Überhaupt hatte ich seit frühester Kindheit viele Beschwerden mit meinen Knien, die mir nach langen Wegstrecken stets ihren Dienst versagen wollten. Dann schien bei mir das Problem, das wohl jeder kennt, nämlich, daß immer, wenn man es eilig hat, man einfach nicht von der Stelle zu kommen scheint, besonders stark ausgeprägt zu sein. So kam es, daß ich oft, besonders dann, wenn ich in der Stadt unterwegs war, immense Schwierigkeiten hatte, vorwärts zu kommen. Nicht daß mich jetzt übermäßige Schmerzen daran hinderten, das war es nicht, sie traten ja nur bei längeren Strecken auf. Vielmehr schien es, als wollte das Zusammenspiel der Muskeln und Sehnen in meinen Beinen nicht das nötige Tempo produzieren und alles ging wie in Zeitlupe vonstatten. Dabei konnte ich mir die größte Mühe geben vorwärts zu kommen, und so verfiel ich in ein permanentes Rennen, um so wenigstens das Tempo eines normalen Fußgängers zu erreichen. So kam ich des öfteren zu spät, was mir sehr peinlich war, und ich deshalb zu irgendwelchen Terminen oft schon eine halbe Stunde früher losging, um ja pünktlich zu sein. Jedoch trat dieses Problem glücklicherweise nur ab und zu auf, doch dann ausgerechnet, wenn ich es einmal eilig hatte. Es schien sich hier um eine noch unbekannte Kraft, eine Trägheitskraft zu handeln, wie ich sie gerne bezeichne, die, so schien es, mit der Erdanziehungskraft nichts gemein hatte, denn sie trat ja nur auf, wenn ich es eilig hatte, so als wollte sie mich foppen.
Wenn es doch nur gelänge, dieser Kraft entgegenzuwirken, grübelte ich oft, doch da ich von all dem wissenschaftlichen Zeug nicht viel verstand, blieb es doch vorerst bei dem Wunsch, dies möge bei mir aufhören.
Eines Tages erinnerte ich mich wieder an diesen Gedanken, als ich ein weiteres Mal mit meinen heimlichen Flugversuchen beschäftigt war. Ich war gerade dabei, bei einem meiner Spaziergänge im Wald, ein paar Sprünge von dem bereits erwähnten Baumstamm zu machen, als mir einfiel, daß es doch möglich sein könnte, jener Kraft, die mir so hinderlich ist, ein Schnippchen zu schlagen, indem ich versuchte, sie einfach umzukehren, sie quasi als Bremse beim Absprung zu benutzen. Nur wie ich das bewerkstelligen sollte, war mir freilich nicht ganz klar dabei; doch meine Logik sagte mir, daß ein Mensch, der stärker gehandicapt ist als die anderen, auf diesem Gebiet vielleicht Fähigkeiten erlangen könnte, mit viel Übung freilich, eine Gabe zu entwickeln, die dieses Handicap ausschaltet, indem eine andere Kraft an dessen Stelle tritt. Man denke nur an die Fähigkeit von Blinden, die mit Hilfe ihres Gehörs und ihres Tastsinnes Fähigkeiten entwickeln, der ein Sehender nicht mächtig ist, die sich orientieren können, so als würden sie alles sehen. In diesem Fall entwickelt das Gehirn also Kräfte, die weit über das Normale hinausgehen, nur durch die Kraft des Geistes allein. Einhergehend mit viel Übung und Konzentration gelingt es diesen Menschen, das Unmögliche möglich zu machen, um zum Beispiel mit den Ohren zu "sehen". Allein aus dieser Vorstellung heraus mußte es doch möglich sein, auch die Arme als Flügel zu benutzen, obwohl diese nicht dazu geschaffen sind, wie die Ohren ja auch nicht zum sehen.
Bald war ich mir sicher, daß ein Fünkchen dieser Gabe in jedem von uns stecken muß, was sich allein schon durch den starken Wunsch in uns manifestiert, wenn wir an das Fliegen denken. Und bei mir, so schien es, war der Funke auf dem besten Wege, sich zum Feuer zu entzünden, denn wenn ich über all die stets wiederkehrenden Träume vom Fliegen nachdachte, und die ständige Sehnsucht, die sich von Kind an nicht verlor, war mir fast sicher, daß ich zu den Menschen gehören mußte, die diese Gabe in sich tragen. Freilich war nichts bekannt in der Welt von solch einer Gabe, doch die Dunkelziffer mochte hoch sein, wenn man bedenkt, daß sich niemand gerne als Versuchskaninchen der Wissenschaft zum Opfer hingibt. Vielmehr würde er die Gabe zu seiner Freude nutzen, und er würde das Risiko, zum Idioten gestempelt zu werden, tunlichst vermeiden wollen, entdeckte man ihn beim ständigen herunterhüpfen von einem Baumstumpf, wie ich es gerade tat.
So beschloß ich weiter zu üben, so oft es ging, denn ich war fest entschlossen, sollte ich diese Gabe besitzen, so würde ich sie fördern und Stück für Stück weiterentwickeln.
Ich beschloß nun zunächst einmal festzustellen, ob sich durch das regelmäßige Üben eine Verbesserung zeigt, die freilich am Anfang so gering sein mochte, daß sie schwer erkennbar sein würde.
Ich begann also zunächst die Zeit zu ermitteln, die vom Absprung bis zum Auftreffen auf der Erde verstrich. Am Anfang versuchte ich dies durch mitzählen während des Sprunges, was sich jedoch als zu ungenau herausstellte, denn die Verbesserungen mochten sehr klein sein, so daß ich sie durch bloßes zählen nicht ermitteln konnte; vielleicht waren es Zehntel Sekunden oder gar Hundertstel. Um genau messen zu können, verschaffte ich mir also eine sehr genaue Stoppuhr mit Hundertstelsekundenanzeige, deren Zählwerk ich mit einem Kontakt auslöste, der sich unter meinen Schuhsohlen anbringen ließ, und der immer dann die Uhr startete, wenn ich von meinem Baumstamm absprang. Damit ich genau messen konnte, mußte es immer die gleiche Stelle sein, von der ich absprang.
So übte ich mehrere Wochen fort, immer vorsichtig mich umschauend, ob mich ja niemand beobachtete. Jetzt ward' mir aber auch klar, daß die meisten Menschen ihre Gabe, falls sie sie überhaupt besaßen, nur schwer entdecken konnten, denn wer machte sich schon die Mühe, die ich mir hier bereitete, waren es ja jeweils nur einige Hundertstel Sekunden Unterschied, der sich zwischen den Messungen zeigte.
Eines Tages schließlich, zu meiner großen Überraschung, war der Wert leicht angestiegen, wovon ich allerdings physisch nichts bemerkte, da es sich ja nur um Hundertstel Sekunden handelte. Das gab mir jedoch ungemein Kraft weiterzumachen, und ich versuchte die Konzentration zu erhöhen, was sich sogleich in einer weiteren Veränderung des Wertes niederschlug. Ich hatte somit den Beweis meiner Theorie erbracht; und auch die Frage, wodurch die Gabe beeinflußbar sein sollte, war nun auch so in etwa geklärt, mußte es sich hier doch um geistige Kräfte handeln, die jedoch gänzlich unerforscht waren, und bei denen nicht abzusehen war, wohin sie im Einzelnen führen sollten.
Der Anfang war gemacht, und zu meinem Erstaunen begann ich bald eine spürbare Veränderung zu bemerken, die mich am Anfang sehr erschrak, spürte ich doch bei einem meiner Absprünge tatsächlich eine bremsende Wirkung im "Flug", so als würde mich eine unheimliche Kraft beim Sprung abfangen und mich weich auf dem Boden aufsetzen lassen. Sofort stellte ich die Messungen ein und begab mich an verschiedene Orte, wo ich den Rest des Tages in einem fort übte und übte. Das Ergebnis war beeindruckend, und bald konnte ich durch bewußte Konzentration auf die Bremswirkung, die Zeit, die ich in der Luft blieb durchaus steuern; und noch beeindruckender war die Tatsache, daß ich den Weg, den ich in der Luft zurücklegte, durch die Stärke der Kraft quasi "regeln" konnte. Wenn ich nun die Wirkung der "Antigravitonkraft", wie ich sie hiermit bezeichnen möchte, beschreiben sollte, so würde ich sie am ehesten mit einem Polster vergleichen, das ich durch die Konzentration, die ich mir angelernt hatte, zwischen mich und die Erdanziehung brachte, um so den freien Fall zu verzögern. Projizierte ich nun das Polster schräg unter mich, also leicht nach vorne, so konnte ich den Weg verlängern, was freilich am Anfang nur einige Zentimeter ausmachte.
Nun begann ich mit der Vorstellung des Polsters zu experimentieren, es zu verformen, in der Länge, Breite, Dichte und so fort; und ich bemerkte, daß die gedachte Veränderung des Polsters während des freien Falls den Flug stark beeinflußte. Ich begann mir also je nach Sprungsituation ein geeignetes Polster im Geiste zurechtzulegen, das ich dann je nach Bedarf formte. Nun begann ich rasch Fortschritte zu machen, das Erfolgsrezept war gefunden, und als ich eines Abends, nachdem ich die Dämmerung abgewartet hatte vom Vordach der Veranda meines Häuschens in vier Metern Höhe absprang, brachte ich einen Gleitflug von mindestens acht Metern zustande, indem ich mich beim Absprung stark nach vorn neigte und das Polster unter meinen Körper konzentrierte. Eine irrsinnige Begeisterung überkam mich nun; und so übte ich die ganze Nacht hindurch weiter, manchmal vergessend, daß mich ja jemand beobachten könnte. Am liebsten hätte ich meine unermeßliche Freude mit der ganzen Welt geteilt, doch die Antigravitonkraft mußte mein Geheimnis bleiben, wollte ich auf Dauer meine Freude daran haben; und außerdem war dies ja noch kein Fliegen im eigentlichem Sinne, sondern nur ein verzögertes Landen.
So vergingen Monate, in denen ich jede Gelegenheit des Alleinseins ausnutzte, um meine Flugversuche zu machen. Bevorzugt stürzte ich mich die Treppe hinunter, nur um dann sanft im Hausflur zu landen, indem ich kurz bevor ich den Boden erreichte einfach die Beine aufstellte, wie es die Vögel bei der Landung tun. Eine höhere Absprungplattform als das Scheunendach zu finden war schwierig, denn die Gefahr entdeckt zu werden war zu groß, und erschwerend kam ja noch hinzu, daß ich immer erst eine Kletterpartie veranstalten mußte, nur um einen einzigen Absprung zu machen. Doch je mehr ich die Gabe als Vergnügen und Bereicherung des Lebens betrachtete, konnte ich mit diesem Umstand leben, zumal ich ja nun nicht mehr in dem Sinne üben mußte, wie es noch vor wenigen Monaten der Fall war. Die Gabe schien sich auch nicht zu verbrauchen, verlernt habe ich sie nach längerer Abstinenz auch nie. So setzte ich sie stets zu meinem Vergnügen ein; und wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, und ich mich unbeobachtet fühlte, wagte ich einen Sprung von einer Anhöhe, einem kleinen Hügel oder einem Baum, schwang mich einige Meter durch die Lüfte und spürte das unvergleichliche Kribbeln im Bauch.
Bald reizte es mich nach mehr, nach immer größeren Höhen, und so beschloß ich eines Abends nach einem meiner Spaziergänge, den Kirchturm des Dorfes D... zu besteigen, um einen längeren Gleitflug zu wagen. Nachdem ich die Dunkelheit abgewartet hatte, und die Straßen Menschenleer waren, machte ich mich an den Aufstieg, nachdem ich mir Zugang zum Turm verschafft hatte. Endlich erreichte ich das Fenster, das mir den Ausstieg ermöglichte. Als ich nun die Höhe vor mir hatte, wurde es mir doch etwas mulmig und meine Hände wurden feucht. Es war schließlich das erste Mal, daß ich einen Sprung aus solcher Höhe wagte. Doch endlich siegte der Drang nach dem Fliegen über die Angst, ich war mir ja nun auch meiner Gabe sicher.
Ich beschloß beim Absprung die Richtung eines Feldes zu nehmen, das sich in der Nähe befand, um nicht auf der Straße zu landen, wo ja jederzeit jemand kommen konnte. Dann, mit einem kräftigen Satz, meine Arme nach vorn ausstreckend, sprang ich vom Turmfenster ab, und ich hätte am liebsten vor lauter Freude laut aufgeschrieen, denn es wurde ein phantastischer Gleitflug von fast hundert Metern. Ich streckte meine Arme weit aus, so als würde ich sie als Schwingen benutzen, und landete schließlich sicher auf dem vorherbestimmten Feld.
Nun hatte ich erreicht, wovon ich schon als kleines Kind träumte; daß so etwas möglich war, unvorstellbar war dies noch vor kurzer Zeit, und ich brauchte eine ganze Weile, um es überhaupt selbst zu glauben. Jetzt hatte ich auch die Angst vor jeglicher Höhe verloren, die ich früher besaß, und fortan vollführte ich viel öfter solche Sprünge. Ich zögerte auch nicht, von einem Felsen zu springen, der sich in der näheren Umgebung befindet. Immer wieder im Laufe der Jahre kehrte ich dahin zurück, um die Freiheit zu spüren, wie sie sonst nur den Vögeln vorbehalten ist.
Nie habe ich jedoch erfahren, warum gerade ich die Gabe besitze und wie viele Menschen mit mir. Es konnten jedoch nicht sehr viele sein, oder sie hüteten ihr Geheimnis so gut wie ich und nutzten ihre Gabe nur zu ihrem reinen Vergnügen.
So ging alles über die Jahre fort. Ich wurde immer geübter im Fliegen, so daß ich mich am Ende gar nicht mehr auf die Projektion des Antigravitonpolsters zu konzentrieren brauchte. Es war wie wenn ein Musiker sein Instrument beherrscht und es virtuos zu spielen weiß, er braucht sich dann auch nicht mehr auf die Griffe zu konzentrieren, alles geht wie von selbst. So konnte ich das Fliegen erst jetzt richtig genießen, ohne ständig an das umformen des Polsters zu denken.
Eines Tages dachte ich jedoch darüber nach, was ich noch an der Technik verbessern könnte. Da fiel mir ein, daß ja die lästigste Begleiterscheinung an der Sache die ist, daß ich vor dem Absprung erst einmal eine erhöhte Position einnehmen muß, um mich erst dann dem Gleitflug zu widmen. Der nächste Schritt mußte also sein, daß ich es schaffe, mich ohne jeglichen Absprung frei aus dem Stand zu erheben. Das stellte ich mir nun aber doch als nicht durchführbar vor, denn wie sollte ich das ohne Flügel bewerkstelligen?
Bei einem normalen Absprung war es ja so, daß ich, während ich Schwung holte, das Antigravitonpolster sozusagen zwischen mich und den Erdboden schob, es mußte also gelingen, das Polster mehr unter meinen Armen zu konzentrieren, durch schlagen der Arme wie mit Flügeln einen Druck zu erzeugen, der mich schließlich von der Erde abhebt. Das war natürlich leichter gesagt als getan, dazu mußte ich ja sozusagen das Polster, das ja gewissermaßen ein Kraftfeld darstellt, in zwei Hälften teilen, nämlich unter jedem Arm eines. Ich hatte jedoch das Polster stets als einheitliches Ganzes betrachtet, wie sollte ich das nun trennen? Nun war das Polster ja auch nichts greifbares, materielles, sondern man muß es sich ja als Kraftfeld vorstellen, das sich nur durch geistige Kräfte formen läßt. Nun bedurfte es also wieder ungeheurer Konzentration, und ich machte über längere Zeit hinweg Übungen mit meinen Armen, was sehr lustig aussah, hätte man mich dabei gesehen, was ich glücklicherweise verhindern konnte.
Das Problem mit dem Polster löste ich letztendlich so, indem ich es quasi um mich herum projizierte, so daß in der Mitte ein Loch entstand, in dem ich stand, so brauchte ich das Kraftfeld nicht zu unterbrechen oder aufzuteilen. Die stärkste Konzentration des Polsters verlagerte ich unter beide Arme, mehr noch unter die Handflächen, die ich so groß wie möglich machte, indem ich die Finger spreizte, um so viel Widerstand wie möglich aufzubieten. Doch trotz der vielen Übungen passierte eine ganze Weile lang überhaupt nichts, wie das bereits bei den anfänglichen Gleitübungen der Fall war. Doch ich gab nicht auf; und schließlich, nachdem ich neben meinen regulären Gleitflügen zusätzlich hin und wieder meine Armübungen machte, passierte nach circa fünf Jahren (ich war jetzt an die dreißig Jahre alt), das Überraschende, mit dem ich schon nicht mehr gerechnet hatte. Mit großer Anstrengung, bei der ich krampfhaft meine Arme nach unten schlug, spürte ich plötzlich einen leichten Widerstand unter meinen Handflächen, der mit jedem weiteren Schlag stärker wurde und mich so für kurze Zeit fast einen Meter vom Boden abhob. Man muß sich das Ganze wie eine Röhre vorstellen, in der ich mich Stück für Stück mit beiden Armen nach oben schob, was eine enorme Kraftanstrengung bedeutete, die mich auch nur ein paar Sekunden in der Luft hielt und mich, sobald ich keine Kraft mehr in den Armen hatte, ziemlich schnell wieder absinken ließ. Doch trotz dieses bescheidenen Erfolges war meine Freude grenzenlos, so daß ich mich kaum wieder beruhigen wollte. Was war das für ein gewaltiger Schritt nach vorn, denn dieses Erlebnis bewies nun endgültig, daß der Mensch allen Vorraussagungen zum Trotz, doch in der Lage ist, sich wie ein Vogel, ohne Hilfsmittel (sieht man einmal von dem unsichtbaren Antigravitonpolster ab) in die Lüfte zu bewegen - auch wenn meine bescheidenen Fähigkeiten in dieser Hinsicht keinen ernsthaften Vergleich mit den Vögeln darstellen. Doch bedenkt man, daß mir ja keine Flügel zur Verfügung stehen, statt dessen nur zwei Hände mit je fünf Fingern, so war dieser eine Meter, den ich vom Boden aufstieg, ein Quantensprung gewaltigen Ausmaßes, der... - Ich gerate hier jedoch zu sehr ins Schwärmen, wo ich doch diesen Bericht ganz sachlich zu Ende führen will.
Ich beschloß also jetzt, um den Steigflug an mir besser voran zu bringen, meine Arme zu stärken, um so der enormen Anstrengung etwas entgegen zu wirken. Ich trainierte mir also ein paar Muskeln an, was nicht nur hübscher aussah, es brachte mich auch beim Steigflug schließlich am Ende auf eine Höhe von ungefähr zehn Metern, in der ich mich immerhin einige Sekunden halten konnte. Ich muß allerdings erwähnen, daß es mit dem Fortschritt sehr lange dauerte (einige Jahre), und daß ich seitdem an einem Punkt angelangt bin, bei dem es nicht weiterzugehen scheint; wobei hier wahrscheinlich die Grenze des Machbaren erreicht ist. Ein Blinder kann ja schließlich mit seinen Ohren, trotz seiner erworbenen Fähigkeit, seine Umwelt sehr gut wahrzunehmen, auch nicht sehen, und ein Vogel ohne Flügel (man kann mich ja als solchen bezeichnen) kann mit seinen Armen schließlich doch nicht so perfekt fliegen.
Somit gab ich es endlich auf weiter zu streben, denn ich hatte mehr erreicht, als ich jemals zu träumen wagte. Und so bescherte ich mir in all den Jahren viele schöne Stunden damit, von hohen Bergen zu gleiten und mich dabei grenzenlos frei zu fühlen. Was den Steigflug betrifft, ihn wende ich nur selten an, etwa um mir hin und wieder den mühsamen Aufstieg zu ersparen und um ab und zu (ich muß es gestehen), einen Blick in ein hell erleuchtetes Fenster im zweiten Stock eines Hauses in der Nähe zu lunsen, (fast hätte man mich einmal dabei entdeckt).
Übrigens ist mein leidiges Handicap, was mich seit meiner Kindheit plagt, nämlich das Problem beim Vorwärtskommen zu Fuß, in all den Jahren meines Fliegenlernens keinen Deut besser geworden. Ich gehe also immer noch eine halbe Stunde früher los, um den Termin noch zu schaffen; allerdings bediene ich mich in unbeobachteten Momenten des Gleitfluges, in dem ich während des Laufens mich mit einem Bein kräftig abstoße und die Arme dabei weit nach vorne strecke. Bei einem solchen Sprung gleite ich mitunter zwei Meter und mehr; und wenn ich keine Anhöhe finde, nutze ich den Steigflug, um schneller vorwärts zu kommen. Nach einigen weiteren Jahren des Übens, gelang mir sogar eine Mischung aus beiden Flugarten durch sehr komplexes formen des Antigravitonpolsters. So war es mir möglich, über kürzere Strecken eine Art "flattern" zu vollführen, was zwar etwas träge vonstatten ging, jedoch einen Flügelschlagen nicht unähnlich ist.
Doch schließlich, wäre das Handicap nicht gewesen und hätte ich dadurch nicht so beharrlich geübt, hätte ich wohl nie bemerkt, daß ich die Gabe besitze, jene Gabe, die es mir erlaubt, wenigstens für einige Augenblicke mich frei zu fühlen, wie nur die Vögel in der Luft.
Und bei all dem bin ich sehr froh, daß ich über die Jahre hinweg meine Gabe nur zu meiner Freude nutzen konnte, ohne entdeckt zu werden. Sollte deshalb diese, meine Aufzeichnung, eines Tages gefunden werden, so muß man mir erst einmal nachweisen, daß diese Geschichte nicht frei erfunden ist.
Mögen diejenigen, die die Gabe besitzen, diese stets zu ihrer Freude benutzen, denn zu diesem Zweck allein wurde sie ihnen gegeben. Und eines Tages, so glaube ich, während die Menschen zur Vollkommenheit vorangeschritten sein werden, wird diese wunderbare Gabe für Jeden ein greifbares Ziel sein, stets zu seiner immerwährenden Freude.
© Mario Höll, 25. Februar 1998
• Weitere Geschichten sind in dem Buch "Abenteuer des Nachts" zu finden - erhältlich als PDF-Datei, siehe >>>>>
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