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Mario Höll

Ich, eine Autobiographie


oder: Warum ich ICH bin



Vorwort des Autobiographen

Warum ist der Mensch (in diesem Falle ich selbst) so nett, oder für die Anderen gar nicht nett oder so oder so …?
Die Antwort darauf ist oft nicht leicht zu finden und für die meisten wohl gar unergründlich. Ich wäre aber nicht ICH, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, eine Antwort zu finden. Der Versuch einer Antwort steht in diesem Buch, das jenen Menschen helfen soll, mich besser zu verstehen. Ich habe mir sagen lassen, daß das nicht nur interessant, sondern auch recht kurzweilig zu lesen ist. Viel Spaß also bei einem Blick in mein Leben!

Hier gibt es exemplarisch fünf Kapitel zum Lesen.


Der Suppenkasper >>>>>

Lehrjahre sind keine Herrenjahre >>>>>

Der real existierende Sozialismus >>>>>

Improvisationen >>>>>

Das Sanatorium >>>>>




Der Suppenkasper

Eines Tages soll ich in den Kindergarten gehen. Sofort bricht eine Welt für mich zusammen; kaum habe ich mich an das Haus gewöhnt und an die Dienstfertigkeiten meiner beiden Omas, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite stehen und mir jegliche Arbeiten abnehmen, so daß das Leben schön ist - und schon soll ich hinaus in die böse Welt und mich von bösen Erzieherinnen belehren lassen. Es kommt wie es kommen mußte, ich hasse den Kindergarten und weine viel, was aber nicht hilft - ich soll kultiviert werden. Der Kindergarten besteht aus einer alten Baracke, in deren Räumen große Pilze an den Wänden sind, durch die Feuchtigkeit, die dort herrscht. Die Schwämme sind so groß, daß wir Kinder bequem darauf sitzen können.
Sofort werde ich krank, ich bekomme chronischen Schnupfen und Bronchitis, von da an alle 14 Tage. Das einzig Gute daran ist, daß ich, immer wenn ich krank bin, nicht in den Kindergarten gehen muß. Ich werde noch mehr eingepackt, um mich auch vor Zugluft zu schützen. Zusätzlich zu den Schlaghosen, aus deren Hosenbeinen man auch bequem einen Rock hätte machen können, muß ich eine karierte Mütze tragen, mit einer leuchtend roten Bommel; am nächsten Tag ist es dann jeweils eine blaue Bommel, und so immer im Wechsel. Ich schäme mich entsetzlich, doch meine Mutter beobachtet genau, ob ich die Mütze auch immer auf habe. Im Winter trage ich große Wollmützen - auch mit Bommel. Sie werden mit Tüchern ausgestopft, damit es nach mehr aussieht und die Bommel steht senkrecht ab, so wirke ich auch gleich größer.
Ein großes Drama gibt es nach wie vor beim Essen, besonders im Kindergarten, nur mit panischer Angst gehe ich dorthin. Mir ist den ganzen Tag nur schlecht, was noch durch den Güllegestank der angrenzenden LPG* verstärkt wird. Es gibt ständige Auseinandersetzungen mit den Erzieherinnen, die sich darüber beschweren, weil ich die Kümmelkörner aus dem Sauerkraut herauspule und den Tellerrand damit schmücke. Die wollen mir einfach nicht glauben, daß ich Kümmel nicht esse. Mein Spitzname ist jetzt "Suppenkasper", und ich werde von den großen Mädchen verprügelt. Sie lauern mir auf, wenn ich mit meinem Roller durchs Dorf fahre. Ich hasse sie alle, später will ich sie einmal umbringen, wenn ich groß bin.
Als ich vier Jahre bin, habe ich trotzdem eine Freundin, wir lieben uns sehr, doch ich weiß, daß ich später nie heiraten werde. Sie zieht auch dann aus dem Dorf weg und ich sehe sie nie wieder.

*Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

© Mario Höll, 2007


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Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Eines Tages in der Schule werden alle Jungs jeweils einzeln zum Direktor geschickt. Der Direktor fragt Jeden, wie viele Jahre er in der Nationalen Volksarmee seinen Ehrendienst ableisten will. Ein paar Jungs verpflichten sich zu 10 Jahren und mehr, und verbessern dadurch ihre Zensuren erheblich, sie sind auch plötzlich viel beliebter bei den Lehrern. Als ich an der Reihe bin, sagt der Direktor nur: "Bei dir bleibt es ja bei den anderthalb Jahren?!"
Schön, daß er jetzt das Denken für mich übernimmt und ich nicht selbst sprechen muß, denke ich; aber mir war ja nicht klar, wie er meine Gedanken lesen konnte, und eigentlich will ich ja gar nicht zur Armee, ich kann mich mir nicht mit Stahlhelm und MPi wie im Krieg, vorstellen.
Meine Zensuren werden nicht besser, wie bei den anderen Jungs - ganz im Gegenteil. Immer mehr Unterrichtsfächer bestehen fast nur noch aus Mathe, wie Chemie, Physik und selbst Geometrie. Schon lange hilft kein Nachhilfeunterricht und auch kein Rechenschieber mehr, alles hört sich für mich an, wie eine fremde, unverständliche Sprache. Jetzt soll ich noch zu all dem zungenbrecherischen Russisch, was wir lernen müssen, eine weitere Sprache, Englisch, lernen. Gerne würde ich jedoch Russisch gegen Englisch eintauschen, was mir viel angenehmer klingt. Am Ende lasse ich nach fünf Stunden Unterricht das Englisch sein, um nicht ganz und gar im Kauderwelsch zu versinken.
Selbst in Sport gibt man mir nur eine Vier, da ich keine sogenannte "Schwimmstufe" besitze, das ist ein Schein, der bestätigt, daß ich hundert Meter weit geschwommen bin. Da jedoch alle Versuche mich zu ertränken gescheitert sind, und man mich zwingen will, in der Mitte des Schwimmbeckens hinüberzuschwimmen und gar wieder zurück (ich aber zu Fuß wieder zurückkomme), bekomme ich keinen Schein und immer eine Vier, egal wie gut ich in Sport bin. Ich lerne später dennoch heimlich schwimmen, außerdem illegal und ganz ohne Schein.

Da Künstler in der DDR unter "Intelligenz" geführt werden und im Rechnen gut sein müssen, nützt mir meine 1 in Kunsterziehung nichts, und aus dem Kosmonauten, der ich als Kind werden wollte, wird wohl auch nichts. Da irgendeiner meiner Freunde den Lehrern verraten haben muß, daß ich in meiner Freizeit neben den künstlerischen Projekten auch als Erfinder tätig bin und so Sachen erfinde wie: "Abschußrampe für Sylvesterraketen", "Wind- und Regenmesser", "Streichholzanzündmaschine", "Türen mit Kämmvorrichtung für Katzen", "Räucherkerzenhalter", "Halterungen für Armbanduhren zum Hinstellen" und sogar gefährliche Waffen, wie die "Mausefallenarmbrust" (bei der der Pfeil durch das Öffnen einer Mausefalle abgefeuert wird), werden mir zwei Berufsvorschläge zu Auswahl gestellt. Der eine lautet "Zerspanungsfacharbeiter" und der andere "Schlosser". Da ich mir bei "Zerspanungsfacharbeiter" nur ein Leben in Metallspänen vorstellen kann, und nach einem 50jährigen Arbeitsleben wohl an einer Zerspanungsmaschine friedlich verscheiden werde, wähle ich "Schlosser", genauer gesagt "Montageschlosser", was mir ein klein wenig kreativer klingt.
Ich erfinde als nächstes einen speziellen Verbrennungsofen für Schulhefte, und nach dem letzten Schultag der achten Klasse, werfe ich die verrissenen Mathearbeiten mit der roten 5 darauf in den Ofen und labe mich an den reinigenden Flammen.
Bald erfahre ich, daß meine Lehre als Schlosser drei Jahre dauern wird und die Hauptfächer in der Berufsschule Staatsbürgerkunde, Deutsch und Sport sein werden und daß ich in die GST* eintreten muß. Ich bekomme eine grüne Uniform mit Käppi und einen GST-Ausweis, in dem ich Mitgliedsmarken einkleben soll, genau wie bei der FDJ. Ich bekomme Angst, als ich mich in der Uniform sehe, sicher muß ich nun bald in den Krieg ziehen. Wir müssen marschieren und schießen lernen, im Wald auf allen Vieren herumkriechen und uns im Gestrüpp verstecken. Eines Tages sollen wir an einem Seil über die Gera** hangeln. Als ich sehe, wie die Ersten hineinfallen, mache ich mich unsichtbar, was auch funktioniert, meine Hose wäre wohl auch ohne Gerawasser naß gewesen. Dann sollen wir über die "Sturmbahn", das heißt, hohe Wände, Gräben und unterirdische Gänge passieren, als ich jedoch um die meisten Hindernisse einen hohen Bogen mache, geben sie es auf, mich weiter zu quälen.
Im Sportunterricht sollen wir Fußball spielen, da friere ich immer sehr vom vielen Herumstehen, nur wenn der Ball kommt, bringe ich mich in Sicherheit. Als ich ins Tor gestellt werde, denken alle, ich hätte das Spiel nicht verstanden, und sie nennen mich "Zinnsoldat", weil ich sonst immer am Rand des Platzes stehe, dabei will ich doch nur meine Ruhe haben und nicht auch noch vom Ball getroffen werden. Als meine Mannschaft ständig 10:1 verliert, darf ich wieder raus aus dem Tor in meine Ecke. Ich hasse seit meiner frühesten Kindheit das Fußballspielen, und kann nicht verstehen, wie, was weiß ich wie viele Mann fanatisch hinter einem einzigen Ball herrennen. Nach der Sportstunde sagt der Lehrer wie immer: "Höll 5!" Und irgendwie kommt mir das bekannt vor.
Im Deutschunterricht, beim selben Lehrer, sollen wir einen Hammer beschreiben; als ich schreibe, daß sich der Hammerstiel vorne verjüngt, lacht der Lehrer und sagt, daß ein Hammer nicht jünger werden kann und daß er ein solches Wort noch nicht gehört hat. Ich habe es jedoch seit Jahren in meinem Sprachschatz, nur will ich mich nicht mit einem Deutschlehrer über die deutsche Sprache streiten. Von da an bin ich der "Professor" und muß bei schwierigen Wörtern, die der Lehrer nicht kennt, vor zur Tafel und sie anschreiben, was mir sehr peinlich ist. Ich hätte Schriftsteller werden sollen, aber auch dazu muß man intelligent sein und rechnen können.
Dann kommt der Tag, an dem wir auch arbeiten sollen; wir bekommen ein viereckiges Stück Stahl, aus dem wir ein Werkzeug herausfeilen sollen, das dauert Monate und inzwischen kann ich recht gut mit der Feile umgehen. Als das Werkzeug, ein "Spanneisen mit Sechskant" fertig ist, gehen für einige Zeit die Stahlblöcke aus und es wird nur Bandstahl geliefert. Der Meister kommt auf die Idee, daraus Unterlegscheiben zu feilen; es werden also Stücke abgeschnitten und Löcher hineingebohrt, und wir müssen die Ecken rund feilen, so daß daraus Unterlegscheiben entstehen. Wenn der Meister den Raum verläßt, sägen wir heimlich die Ecken ab, so daß weniger zu feilen ist. Trotzdem müssen wir das acht Stunden am Tag machen; danach wandern die Unterlegscheiben in den Schrott, wo schon die Spanneisen liegen, und wir müssen neue Gegenstände aus dem Stück herausfeilen. Insgesamt gesehen geht das so etwa zwei Jahre lang, und ich erdreiste mich des Öfteren, das Leben als sinnlos und verpfuscht zu betrachten. Dann, irgendwo höre ich: "Lehrjahre sind keine Herrenjahre."

*Gesellschaft für Sport und Technik
** Fluß in Thüringen

© Mario Höll, 2007


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Der real existierende Sozialismus

Ich soll wieder zum Obermeister kommen, zu dem mit dem gelben Fleck an der Wand. Der sagt, daß ich jetzt wirklich als Montageschlosser arbeiten soll, und ein Meister wird abgestellt, der mich zu meinem neuen Arbeitsplatz führt.
Es ist eine große Halle mit 2 fahrbaren Kränen an der Decke, nicht ganz so groß, wie die anderen 100-Meter-Hallen, aber doch ungemütlich genug. Ich soll ja auch nur kleinere Schlosserarbeiten ausführen, sagt der Meister. In der Halle stehen Behälter aus Nirostahl, etwa 1,5 Meter im Durchmesser, die mit Rohren bestückt werden, ähnlich wie bei einer Dampflokomotive. Der ansässige Meister sagt, ich soll ab jetzt die Behälter innen verschleifen, und ich bekomme eine klobige und unheimlich schwere Preßluftbetriebene Schleifhexe in die Hand gedrückt. Ich frage mich unwillkürlich, wie schwer wohl dann größere Schlosserarbeiten sind. Ich muß in den Behälter hineinkriechen, eine Lampe mit hineinnehmen und die Schleifhexe - das ist jetzt mein neuer Arbeitsplatz. Allmählich begreife ich jedoch auch warum: Die Einstiegsluke des Behälters ist nämlich nicht sehr geräumig, daher sind so kleine, schmächtige Leute wie ich brauchbar - nur sie passen da hinein. Nur die Schleifhexe ist meiner Größe nicht angepaßt und es dauert nicht lange, bis ich mich ins Knie schleife. Die Kerbe in der Haut wird wieder zusammengeklebt, und ich muß weiterschleifen - jetzt bin ich vorsichtiger. Ich mache auch ab und zu heimlich Pause auf dem Klo. Zweimal am Tag hole ich mir den großen Metallring mit dem Toilettenschlüssel daran, der sehr auffällig mitten in der Halle an einem Balken hängt, damit die Arbeiter nicht zu viel Stuhlgang haben. Zur Zeit der Mittagspause schon, wollen meine Knie (die ja schon von Geburt an nicht für einen richtigen Arbeiter ausgelegt sind) den Dienst quittieren und machen mit unangenehm schmirgelnden Schmerzen und dem Drang mich hinzusetzen auf sich aufmerksam. Also muß ich häufig pinkeln gehen. Ich setzte mich im Toilettenraum auf die Stufe, die zu den Pißbecken führt, so daß, wenn jemand hereinkommt, ich schnell zu einem der Becken springen kann, um so zu tun als ob. So kann ich manchmal 5 Minuten genußvoll sitzen, bevor jemand kommt. Ich muß nur die seitlich einige Zentimeter aus den Ohren ragenden Gehörschutzwattestücke herausnehmen, damit ich die nahenden Schritte rechtzeitig höre. Ohne die Gehörschutzwatte würde man den Krach der Schleifhexen gar nicht ertragen können, genauso wenig wie den Staub und die Funken, die um einen herumwirbeln, wäre man nicht völlig vermummt, mit Brille, Atemschutzmaske, Mütze, Stehkragen und dicken Handschuhen. Trotzdem juckt es überall und bei jedem Schritt. Nach Feierabend kann man schwarze Klumpen aus der Nase pulen und Zentimeterbreite Augenringe aus Schleifstaub abwaschen.

Jetzt bin ich also ein richtiger Arbeiter, stehe um 6 Uhr auf und treffe mich mit den anderen an der Bushaltestelle. Sie stehen schon 30 Jahre jeden Morgen immer pünktlich hier. Bei dem Gedanken daran, daß ich das jetzt 40 Jahre lang machen muß, wird mir schon wieder schlecht vor Angst und die Hände werden mir naß. Wieder bin ich der Jüngste und Kleinste, der noch alles vor sich hat. Wie gut haben es doch Rudi und die Anderen, die sogar bis fast zur Rente überlebt haben, was viele ja gar nicht schaffen.
Während des Wartens auf den Arbeiterbus beobachte ich Rudi immer und denke: "Das könntest du jetzt sein - ein richtiger Arbeiter". Man erkennt ihn schon von weitem: Weit schwenkt er seine braune Aktentasche, die früher einmal ein Schulranzen gewesen ist. Vorne, in den zwei Kammern stecken die Brotbüchse und die Thermoskanne. Ein Schloß ist schon abgefallen, durch den Druck der Kanne, die mit ihrer weißen Drinkkappe ein Stück aus der Tasche herausragt. Weit schwenkt er die Tasche, bewirkt durch seine großen Schritte, die die extremen O-Beine in der grünen Selastikhose erst richtig zur Geltung bringen. Die O-Beine sind durch das jahrelange Heben von schweren Lasten entstanden - Rudi ist Transportarbeiter (ich stelle mir immer dabei vor, daß man bei dieser Arbeit Gegenstände hin und her trägt). Dann kommt er näher und ich kann sein Gesicht betrachten, es ist voller Furchen eines langen Arbeiterlebens. Auf seiner Nase sitzt die obligatorische Kassenbrille aus Horn, die er schon sein ganzes Leben lang trägt; die hat er sogar an seine Tochter vererbt, also meine Freundin, die ich später mal heiraten soll. Auf dem Kopf trägt er jenen Standard-Arbeiterhut aus Filz, mit schmaler Krempe, wie ihn alle tragen, ab dem 45igsten Lebensjahr. Sein Nylonanorak ist braun, (jene Farbe, die zusammen mit grau allgegenwärtig ist) und hat sicher schon 20 Jahre den Regen abgehalten.
"Das könntest du sein", denke ich, und stelle mir vor, wie es wäre, Rente zu kriegen und ausschlafen zu können - als mich die einfahrenden Ikarus-Arbeiterbusse, dröhnend und graue Nebelschwaden speiend, ihre abgerundeten Anhänger hinterherziehend, jäh in die reale Welt des sozialistischen Alltags befördern.


© Mario Höll, 2007


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Improvisationen

Mit der Zeit stelle ich fest, daß im Taschenlampenwerk eine Menge interessanter Leute arbeiten, jeder ein Mensch mit kleinen Eigenheiten, so wie wahrscheinlich ich einer bin. Da ist "Popeye", der seine Arme bei der Arbeit an der Stanzmaschine so schnell bewegen kann, daß man sie kaum mehr sieht, ohne dabei jemals eine Miene zu verziehen; "Schwinz", der gerne in herumstehende Kisten scheißt; "David", der Alkoholiker, der laut mit den Zähnen knirscht, wenn er in Streß gerät; der alte Heizer, der in der Nachtschicht behinderte junge Mädchen verführt; Mario, der junge Mann aus der Schlosserei, bei dessen schneller Schubkarre sich alle aus den Gängen flüchten und dessen Lachanfälle weithin zu hören sind, sowie weitere sonderbare Persönlichkeiten.
Damit die Maschinen funktionieren wird viel improvisiert. Auf abgenutzte Wellen wird Material aufgeschweißt, um sie dann mit der Drehmaschine weiterzubehandeln. Die alten Schlosser sind Meister der Improvisation: Sie brennen da etwas weg, schweißen dort etwas an, umwickeln da etwas mit Draht oder Strick - damit die Maschinen wieder laufen. Auch die restlichen Arbeiter sind einfallsreich und nicht zimperlich: In der Galvanik wird mit Säure gepanscht - es dampft und zischt wie in einer Hexenküche; die Lungen der Arbeiter sind schon so verätzt, daß sie nicht mehr wehtun, im Gegensatz zu meinen, wenn ich da hinein muß. Ein Mann in der Triewäsche säubert schon seit 40 Jahren fettige Bleche mit Lösungsmitteln; die Spritzerei ist stets in feinen Nebel gehüllt, während die Arbeiter bis zu den Ellenbogen in der Farbe hantieren; und die Maurer reißen Wände ein und bauen sie wieder auf, wenn einmal eine neue Maschine kommt.
Einmal trifft eine 15 Meter lange Plastegußmaschine ein, die die Schlosser auf Rollen und mit Seilwinden zu ihrem Bestimmungsort bewegen, während die Maurer vor der Maschine die Wände einreißen und dahinter wieder hochmauern.
Ab und zu darf ich einem Schlosser beim Reparieren behilflich sein, er sagt dann Sachen wie: "Hammer, Schlüssel, Zange" usw., wie ein OP-Arzt zur Schwester: "Skalpell, Schere" usw. Da ich sicher etwas lernen soll, traue ich mich endlich zu fragen, wie man bestimmte Schlossertricks ausführt, doch die Alten hüten ihre Geheimnisse sorgfältig und verraten nichts.
Dann soll ich mit Mario wieder Löcher graben und flächendeckend Erde abtragen, damit wir wieder einige Wochen Beschäftigung haben.
Manchmal haben 10 Schlosser nicht allzuviel zu tun, der Ofen ist angeheizt, der Kaffee aufgebrüht, dann sitzen alle im gemütlichen, warmen Schlosserraum am Tisch, zwischen den Maschinen oder bilden eine Kette um den Ofen.
Wenn dann der Meister auf der anderen Straßenseite herannaht, wird schnell ein Blech in den Schraubstock gespannt und daran gefeilt. Wenn der Meister fragt, was ich da mache, antworte ich: "Ich feile hier das Blech." Meistens ist er dann beruhigt. Oft habe ich aber auch pro Tag mehr als 10 verschiedene Arbeiten angefangen und das Werkzeug an 10 verschiedenen Orten verteilt, dann kommt wieder der Meister, um mir eine neue Arbeit zuzuteilen; ich muß dann alles fallen lassen und mitkommen. Er zeigt mir sogar wie man eine Schaufel bedient, schaufelt selbst drei bis vier Mal, und läßt mich dann mit dem Rest der zwei Tonnen Steine allein. Ich darf jetzt nur nicht vergessen, wo überall das Werkzeug verstreut ist.
Sonst ist die Arbeit sehr abwechslungsreich, einmal sind verschiedene, metertiefe Gruben auszuheben, dann mal ein Ofen aus dem 3. Stockwerk eines Nachbarhauses zu werfen, Dachziegeln zu stapeln, Straße zu kehren und Bohrer anzuschleifen.
Bei den Erdarbeiten mit Mario stelle ich fest, daß ich ihn für mein schon länger geplantes Projekt, ein Musikalbum aufzunehmen, begeistern kann. Seitdem üben wir während des Schaufelns singen, weil ich finde, daß die Arbeit mehr Sinn macht, wenn man kreativ ist. Es sind Wort für Wort ins Englische übersetzte, (also ohne Grammatik) von mir geschriebene Texte. Wir üben also laut singen, als erstes ein Lied Namens "Tuesday Morning". Wir üben auch in der Mittagspause im Umkleideraum weiter, während die alten Schlosser nebenan schlafen, solange, bis Mario einen seiner Lachanfälle bekommt, die sich stets anhören wie eine schreiende Frau bei einer schweren Entbindung. Meistens ruft darauf die Stimme des Brigadiers von nebenan: "Jetzt kniepen sie sich wieder in die Eier!"
Doch niemand nimmt unsere Musik, die zwar nur eine verrauschte Mischung aus Pappeimern, Gummiseilen und Klaviergeklimper ist, ernst, alle lachen nur, zucken mit den Beinen und die Elektriker fragen was das ist. Trotz des Spottes weiß ich, daß ich jetzt kreativ sein will, es muß doch einen Sinn im Leben geben. In der freien Zeit am Feierabend nehmen wir all die Arbeiterbusse und Trabis mit unseren Kassettenrekordern auf, Klaviere bei alten Leuten, die noch eines stehen haben und allerlei Alltagsgegenstände, dazu singen wir und klopfen auf allem was Geräusche macht herum. Nach einem Jahr ist mein langersehntes Album fertig, und es sollen noch weitere folgen, am Ende wird sogar noch Musik daraus.

Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause komme, sagt meine Mutter, sie hat eine Überraschung für mich. Sonderbarerweise sinken meine Mundwinkel sofort bei Erhalt der Überraschung in Richtung Knie. Habe ich die Freude meiner Mutter falsch verstanden?
Es ist der Einberufungsbefehl zur NVA*.

*Nationale Volksarmee

© Mario Höll, 2007


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Das Sanatorium

Zusammen mit zwei weiteren Halbtoten werde ich auf einen LKW verladen. Den Sack mit meinen Sachen kann ich schon nicht mehr selbst tragen, das muß - wutentbrannt, jemand anders für mich erledigen. Wir werden nach Hildburghausen gebracht, in ein Reserveobjekt, mitten im Wald. Die Häuser und Baracken aus altem Holz, von denen schon die Farbe abgeplatzt ist, sehen aus, als ob sie von der Bürokratie vergessen wurden. Es gibt nur wenig Leute und eine Wache, die gar nicht weiß, was oder wen sie zu bewachen hat, wahrscheinlich nur sich selbst, denn der einzige Vorgesetzte, Oberfähnrich ... ist nur selten anwesend. Das wirkliche Kommando über die Hand voll Leute führt ein Soldat, der vor Ehrgeiz fast überläuft - in sein Zimmer komme ich. Dieser penetrante Mensch, der noch viel mehr Knoten an seiner Monatsleine hat als ich, spricht im Schlaf, gibt Kommandos und erörtert die ganze Nacht diverse Probleme, während er sich im Bett herumwirft. Mit blutunterlaufenen Augen bitte ich, in das Nachbarzimmer versetzt zu werden.
Die Dielen und Wände in dem Zimmer knarren zwar fürchterlich, doch wenn ich mich nicht bewege, höre ich nur den Wald draußen rauschen. Mein neuer Zimmergenosse spricht gar nicht, er bewegt sich nur ganz langsam und ißt viele Schmerztabletten, um sich zu betäuben. Als man mir sagt, er käme vom "Anderen Ufer", wundere ich mich aber nicht, bei der Armee gibt es sehr viele Brüder dieses Schlages, und der hier will mich auch gar nicht anfassen. Er gibt mir sogar ab und zu eine seiner Tabletten, von denen ich meine Umwelt nur noch sehr undeutlich wahrnehme. Schön, denke ich, doch leider macht so was das Gehirn kaputt, und am Ende werde ich womöglich noch schwul davon.
In Meiningen kommt ab und zu einer, der sich gerne auf mein Bett setzt. Ein anderer - tagsüber völlig ruhig und unauffällig, wird nach dem Genuß von Alkohol abartig und greift wenn ich schlafe unter meine Decke. Ich passe aber auf und lasse ihn nicht an mich ran.
Gegen einen großen, dicken, mit Händen wie Kloschüsseln, einer überdimensionalen Hornbrille und überall Haaren, die sogar im Genick raushängen, kann ich nichts tun. Er nimmt mich gleich samt Matratze auf sein Zimmer mit, er wickelt mich ein, trägt mich unter dem Arm und packt mich auf seinem Bett wieder aus. Ich will schon schreien, wie man es bei Vergewaltigungen tun soll, doch welch durch ein Wunder - er will sich nur mit mir unterhalten.
Diesen hier beobachte ich heimlich, und erst als ich weiß, daß ich wohl nicht sein Typ bin, kann ich ruhig schlafen - denke ich.
Ein Druck in der Bauchgegend weckt mich unsanft, mitten in der Nacht. Das Wasser hier im Wald muß wohl vergiftet sein, und ich habe vergessen die Toilette zu suchen als ich ankam. Also renne ich los, Treppen auf und ab, überall knarrt und federt es, und als ich die Tür endlich gefunden habe und gerade meine Hand auf den Türgriff legen will - war mein Darm schneller ...
Tags darauf ruft der große, dicke, behaarte an und fragt mich, ob ich schon Gefreiter bin. Ein unendlich langes Jahr voller Horrorvisionen ist vorbei, jetzt sollte ich endlich auch über andere Menschen herrschen können - doch mich hat man wie immer vergessen, der Lohn der Unsichtbarkeit fordert seinen Tribut. Ich will aber auch endlich mehr Ruhe haben, also nehme ich all meinen Mut zusammen und bitte beim Oberfähnrich um Beförderung. Nach einem kurzen Anruf in Meiningen wird das tatsächlich genehmigt.
Er läßt also alle in der Kantine antreten und übergibt mir feierlich die Schulterstücke mit den Balken darauf. Jetzt bin ich endlich EK und kann mit strengem Zepter über meine Untertanen, die gewöhnlichen Soldaten befehligen. Sofort lasse ich mir von Soldat W... die Türen öffnen und leite die anderen Soldaten zur Arbeit an, bis mir langweilig wird und ich mir komisch in dieser Rolle vorkomme. Ich beschließe also, lieber ein normaler Mensch zu bleiben, denn die Herrscherrolle liegt mir gar nicht.
Vorteile natürlich weiß ich zu nutzen, und als ich das erste Mal als Chef der Wache eingesetzt werde, ordne ich an, daß nur noch 2 Leute aufpassen müssen, falls der Oberfähnrich Kontrolle macht. Die restlichen Soldaten schicke ich schlafen, und auch ich selbst nehme mir eine große Mütze davon, lege mich in voller Ausrüstung in eine Arrestzelle und schlafe mich endlich aus.
Unter meinem Regime darf soviel geschlafen werden, wie jeder Lust hat, Kontrollgänge um das Objekt werden ersatzlos gestrichen und für Verpflegung in Form von Konserven wird gesorgt, indem nachts in die Küchenbaracke eingebrochen wird.
Eines Abends, es sind noch 150 Tage bis zum Heimgang, lasse ich die Anschnittszeremonie durchführen: Soldat W... steigt, ganz in weißer Unterwäsche und mit schwarzen Stiefeln, Feuerlöscher auf dem Rücken und Kerze auf dem Stahlhelm, auf einen Spind. Ich steige auf einen anderen, gegenüber und lasse den Stahlhelm auf das Bandmaß fädeln. Der Soldat schneidet jetzt den ersten Tag ab und der Helm fällt krachend zu Boden. Fällt jetzt der abgeschnittene Schnipsel mit der Zahl nach oben, heißt das Heimgang - fällt er mit der Zahl nach unten, heißt das Sackgang.
Der folgte bald auf eine kurze Zeit der Ruhe und Harmonie mit mir als Wachhabenden.

Dann fahren die Herren ins Objekt ein und mit ihnen eine geballte Ladung neuer, überflüssiger und krankmachender Regeln. Tagsüber müssen wir Kohlen stapeln, ganz akkurat mit dem Aufdruck nach oben - die sollen im Winter verheizt werden. Alles was sich reinigen läßt, wird 3 mal täglich gereinigt; wir müssen wieder von Gebäude zu Gebäude umziehen. Diener werden angestellt, die den Herren Kaffee servieren und die Wache kommt in Sichtweite der Offiziere und muß Tag und Nacht wach bleiben. Vorbei die Wanderungen im Wald, das Pilze- und Beerenpflücken und das Schlafen.
Nur noch mein Bandmaß spendet mir jetzt Trost, heimlich rolle ich es in jeder freien Minute aus, betrachte die Zahlen, bunten Farben und Symbole, bei denen jeder Tag eine andere Bedeutung hat. Nie vergesse ich, um Punkt 17.00 Uhr den nächsten Schnipsel abzuschneiden und dem Glöckchen zu lauschen, das den Heimgang einläutet.
Das Wachlokal wird ausgeräumt, die Bilder an der Wand und natürlich das Radio werden konfisziert, und ich muß in einem neuen Wachzimmer sitzen, mit Glasscheibe, damit die Offiziere im Vorbeigehen sehen, ob meine Augen offen sind. Ab und zu in der Nacht schlägt es an die Scheibe und ich werde in die schreckliche Realität zurückgeholt. Als ich endlich, nach 27 Stunden Wachen raus aus dem Glaskasten ans Tor darf, breche ich mit dem Seitengewehr, mit dem ich eigentlich meinen Feind erstechen soll, die Tür der alten Wache auf, setze mich auf den einzigen Stuhl, der noch steht und schlafe einfach, egal - nur nicht länger in dieser Realität sein.
Nach einigen Tagen Wache im Glaskasten, erdreiste ich mir, einen der Herren zu fragen, ob ich einmal Urlaub bekommen könnte. Er sagt: "Eine Frage ist keine Klage. Sie kommen zurück nach Meiningen!"

© Mario Höll, 2007


Weitere Geschichten sind in dem Buch "Ich eine Autobiographie" zu finden - erhältlich als PDF-Datei, siehe >>>>>


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