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Mario Höll

Gesammelte Werke


oder: Was sich sonst noch so zusammenleppert



Vorwort

Im laufe der Zeit fallen auch so manche Schriftstücke an, die sich nicht so recht einer besonderen Kategorie zuordnen lassen. Diese Geschichten, Aphorismen und Tagebucheinträge sind nicht weniger interessant sondern in diesem Buch für die interessierte Nachwelt aufgeschrieben:




Land der Gegensätze - Ein Reisetagebuch >>>>>

Die Seuche des Erwachsenwerdens - Eine Anleitung gegen das Älterwerden >>>>>>

Die Auferstehung - Eine Geschichte aus dem Paradies >>>>>

Vom Wesen der Gewalt >>>>>

Warum ist das so? - Ein Loblied auf die Neugier >>>>>

Südkorea hin - und zurück (?) - Ein Reisebericht Teil II >>>>>

Auf der Suche nach dem glöttlichen Ton >>>>>



Land der Gegensätze  

Ein Reisetagebuch - Südkorea hin und zurück

Für Xaver & Lotte

24. Oktober 2006 - Quecksilber

Um 4 Uhr morgens nach München in einem Auto mit Klimaanlage. Der Sohn meines Cousins nimmt uns mit. Keine Luft, statt dessen kaltes Quecksilber fließt mir in Mund und Nase und füllt mich aus. Ich versuche an etwas anderes zu denken aber unmöglich, nur Übelkeit und Benommenheit. Aber nach drei Stunden sind wir da. Der Flughafen ist eine riesige Stadt,
in der ich keine Orientierung finden würde. Blendende Lampen und Klimaanlagen.
Mein Cousin nimmt uns in Empfang. Ich sehe schlecht aus und bin benommen. Mich interessiert nichts - nur schlafen, schlafen, schlafen.
Gegen Mittag eingecheckt. Ich passiere mehrere Tore, ohne kontrolliert zu werden -
aber meine Frau. Ich komme mir hilflos vor - viele Zahlen und keine Orientierung, mein Kopf ist noch vernebelt. Zum Glück ist da mein Cousin, der eigentlich arbeiten müßte.
Er erklärt alles und hilft im Kampf gegen die Zahlen.
Mein erster Flug seit zwanzig Jahren ist eine kleinere Maschine der Airfrance. Vorher schlucke ich eine Reisetablette. Nur so läßt sich das Gefühl des bevorstehenden Wahnsinns eindämmen. Trotzdem nasse Hände und Füße, kalter Schweiß und starkes Frieren, trotz der Winterkleidung. Diesmal abgeschwächtes "Quecksilber" in Nase und Rachen - Düsen mit aggressiver Luft blasen mich an. Nur die Luftlöcher verursachen das kurze "Wahnsinnigwerdengefühl". Ich fixiere den Horizont - das Fenster ist meine Rettung.
Amsterdam. Riesige Quadrate - wohl Gewächshäuser strahlen mich von unten an, tausend Lampen eines Maschinenplanets. Wir setzen auf.
Nach kilometerlangen Laufbändern und unendlich vielen Zahlen und Buchstaben, die uns scheinbar ans Ziel bringen, checken wir erneut ein. Meine Frau fragt einen Koreaner,
der, stolz auf sein gutes Englisch, hilfreich uns das Gefühl gibt, richtig zu sein. Jetzt macht sich mein Liedtextübersetzen der Jugend bezahlt - im Unverständlichen tauchen Fragmente des Verstehens auf. Das Gepäck, darunter der sperrige Rollator für die kranke Schwiegermutter quält uns diesmal nicht und wird weitergeleitet. Endlich, um 18.30 Uhr besteigen wir eine Boing 747-400 und heben scheinbar mit Leichtigkeit ab nach Südkorea.
An Bord das übliche Procedere: Ein wenig Fernsehen, Getränke aller Art, dann heiße Läppchen für die Hände, worauf das Essen folgt. Koreanisches Essen - kleine Plastikdöschen mit Kimchi, roter Pfefferpaste (Gozusang) und Hühnerfleisch oder Pasta - natürlich alles scharf. Die Boing fliegt viel ruhiger, nicht so holprig aber trotzdem laut. Für die kommenden zehn Stunden schraube ich mir Ohropax in die Ohren - jetzt ist nur noch ein erträgliches Rauschen zu hören. Unter uns Wolken wie Pulverschnee, und nach dem kurz darauf folgenden Sonnenuntergang nur noch tiefe Schwärze. Gegen 1.00 Uhr wird es langsam hell am Horizont. Irgend etwas ist also schon mit der Zeit passiert. Meine Uhr indes will ich gar nicht umstellen - mal sehen, wie sich das anfühlt. Wir wechseln uns ab mit schlafen, in dem wir einen freien Platz neben uns nutzen - der, der wacht, steht hinten an der Notausgangstür und wartet auf die Ablösung.


25. Oktober 2006 - 995 Stundenkilometer

Unvorstellbar kaum, daß die Boing immer noch fliegt. Das Wandern auf den Gängen und der Gang zur Toilette ist Befreiung nach langem, eingepferchtem Sitzen. Im Halbschlaf erinnert es mich an lange Zugfahrten. Ähnlich fühlt es sich an, aber das Dröhnen der Triebwerke läßt mich wieder an ein Flugzeug glauben. Die ständig blasenden Luftdüsen lassen meine Schleimhäute austrocknen und anschwellen - ich sprühe mit Meerwasserspray und abschwellenden Mitteln. Dann die Beine - ich weiß nicht mehr wohin mit ihnen, gern würde ich sie in die Höhe strecken, lang machen oder gar hochlegen wäre ein Traum. Ich will sie unbedingt ausstrecken - aber es geht nicht. Es ist nicht vorgesehen - nur in der Abteilung für die Geschäftsleute, eine Etage über uns. Reisetabletten und Baldrian-Beruhigungspillen schaffen ein wenig Linderung.
Seit zwei Stunden überfliegen wir Felsen, die an vergrößertes Leder erinnern.
Keine Anzeichen von Zivilisation - nur nackte Felsen und keine Wolke. Die Triebwerke dröhnen seit neun Stunden vollkommen gleichmäßig. Die Karte auf dem Fernsehschirm sagt, daß wir gerade Peking überfliegen - mit 995 km/h - zu sehen sind jetzt nur Wattebäuschchen.
Endlich, nach 10 Stunden kommt der große Vogel runter. Keine verdächtigen Geräusche, die Angst einflößen könnten - trotzdem wieder das kurze Gefühl von Wahnsinn.
Ein großer Flughafen, wie die beiden ersten. Die paar Europäer verlaufen sich - ab jetzt gibt es nur noch Asiaten und einen Exoten darin. Es geht durch mehrere kontrollierte Tore, an einem soll ich ein Papier ausfüllen, dem ich bis jetzt keine Beachtung schenkte. Erste Schwierigkeiten: mein Englisch reicht nicht. Es dauert, meine Frau muß übersetzen und ich schwitze in den dicken Wintersachen. Der Zettel fragt, ob ich Drogen dabei habe und andere illegale Dinge - ich hatte es nicht ernst genommen, da ich dachte, daß diejenigen, die das vorhaben, das bestimmt nicht auf einem Zettel eintragen.
Meine Frau ist schon durch und ich finde sie erst nach einigem Suchen an der Gepäckschlange. Mein erster Gedanke ist, wie ich wohl hier ohne sie zurechtkommen würde.
Endlich freier Himmel und chemisch unbehandelte Luft. Beton. Überall hellgrauer Beton mit futuristischen Bauten, hellgrau beige Straßen, meist 8-spurig und Unmengen nicht lesbarer Schriftzeichen - das ist Inchoen, wo der internationale Flughafen steht. Nach zahlreichen Irrwegen mit dem belastenden Gepäck, darunter der Rollator für die Schwiegermutter und den lähmenden Wintersachen, spricht uns endlich jemand an. Es ist der Schwiegersohn der 2. Schwester meiner Frau. Kurz darauf erscheint auch seine Frau aus der Menge -
ich kenne sie von Fotos. "An Jong Ha Se Jo" - das Wort für "Guten Tag" erklingt, und die beiden nehmen uns mit zu ihrer Wohnung, nicht weit von hier. Mehrspurige Straßen, grüne Schilder, waagerechte Ampeln, zügiges Tempo und große graue Neubaublocks beherrschen das Stadtbild. Dann wird die Fahrt unterbrochen - es ist ein Kassenhäuschen.
Das Benutzen der Autobahn kostet hier Geld. Für die Weiterfahrt müssen erst einige tausend Won bezahlt werden (je nach Straße und Kilometern). Die Farbe der Schilder wechselt nach Blau. Angekommen in der Wohnung der jungen Leute. 9. Stock von 20.
Es sind kleine Räume, in denen nicht viel steht - kein Tisch und keine Stühle. Bei Getränken und Obst wird ein Klapptisch aufgestellt, vor dem wir uns niederlassen. Koreanische Unterhaltungen, die lustig wirken, aber auch ermüdend. Ich brauche dringend Schlaf und darf mich auf das Ehebett im Schlafzimmer legen. Stimmen wecken mich kurz darauf und ein Blick auf die Uhr sagt mir, daß ich nur eine halbe Stunde geschlafen habe. Ich lerne meinen Schwager und meine Schwägerin kennen - die 2. Schwester meiner Frau. Umarmungen und nette Begrüßungen, obwohl wir uns nur von Fotos kennen. Sie erinnert mich an die ältere Schwester Jin Duk und interessiert sich sehr für Äußerlichkeiten. Er ist ruhig und macht einen vernünftigen Eindruck.
Mittagessen beim Chinesen - ein sehr farbenfrohes und vielfältiges Essen, aber mein Magen hat Jetlag.
Spazieren in einem Park, gleich neben Hochhäusern und mitten in der Stadt. Unbehauene Steintreppen führen hinauf. Gelbes Gras und gelblich, rötliche Erde. Viele Sportgeräte, deren Benutzung kostenlos ist und Wanderwege, die in bewaldete Gegenden führen. Außer den helleren Farben und den mir unbekannten Bäumen, erinnert mich die Natur an zu Hause in Deutschland. Nicht so die Städte: Beton und nochmals Beton, Hochhäuser, Straßen kreuz und quer, Werbung an jedem freien Platz, Leuchtreklame in allen Farben, Kabel, Rohre und wieder Werbung mit blinkenden Lichtern - für mich totale Reizüberflutung. Ich frage, was das für seltsame Aufbauten auf den Häusern sind. "Wasserreservate",
sagt meine Frau.
Hastige Verabschiedungen, dann geht es mit dem Auto weiter. Wir steigen in einen Bus um, der nach Iksan zu den Schwiegereltern fährt. Der Bus hastet drei Stunden über Autobahnen. Zwischen den nicht mehr aufzuhaltenden Schlafphasen, die immer länger werden, huschen viele Lichter an mir vorbei, und wieder Hochhäuser, verschachtelte Straßen und Werbung - ein ganzes Meer davon. "Seoul", sagt meine Frau. Wir überqueren den Fluß Han, 4 mal breiter als der Rhein. Große Flächen, die vom Meer zur Landgewinnung abgetrennt werden. Dann werden die Lichter dunkler und lassen Landgebiete erahnen.
Nach einer kurzen Pause auf einem Rasthof, endlich Iksan. Aus einem Jeep steigt mein Schwager und meine Schwiegermutter - wieder herzliche Begrüßungen und Umarmungen.
Die Schwiegermutter ist eine alte Frau, die ganz gebückt geht, sie kann den Schiebwagen sicher brauchen. Dann geht es wieder weiter durch Industriegebiete, enge Gassen und dichtbesiedeltes Gebiet. Für mich sieht das extrem unübersichtlich aus und mir fehlt jede Orientierung. Anscheinend gibt es hier kein Konzept - wo Platz ist wird eben etwas hingebaut.
Ein kleines Haus an einem Parkplatz. Die Schuhe werden schon draußen ausgezogen.
Was ich für einen Vorraum halte, entpuppt sich als das Wohnzimmer - nur ein kleiner Raum mit einem Bett und einem großen, reich mit Perlmutt verzierten Schrank und einem Fernseher. Der Schwager schaltet den Fernseher ein und wir lassen uns auf dem Boden nieder. Ich lerne meinen Schwiegervater, die Frau meines 2. Schwagers und ihre 7-jährige Tochter kennen. Alle sitzen jetzt in dem kleinen Zimmer und reden in der fremden Sprache, die ich nicht verstehe. Um mich elektronische Schlösser, Mobiltelephone mit schrecklichen Tönen und mir unbekannte Geräte. Selbst so lapidare Dinge wie Türdrücker und Klospülung muß ich erst ausprobieren und kennenlernen, da selbst diese völlig anders aufgebaut sind.
Es ist spät geworden, als uns der Schwager zu einer von seinem Arbeitskollegen für uns zur Verfügung gestellten Wohnung, die er zur Zeit nicht nutzt, da er in Seoul auf Arbeitssuche ist, bringt. Es geht weitere fünf Kilometer durch die Stadt zu einem Hochhaus wie so viele - hier, im 13. Stock werden wir die nächsten drei Wochen übernachten. Es gibt ein geräumiges Zimmer mit integrierter Küche, ein Bett - keine Selbstverständlichkeit,
und natürlich den allgegenwärtigen Fernseher, der gleich auf korrekte Funktion geprüft wird.


26. Oktober 2006 - Mottenkugeln

Bleierner Schlaf mit deutlichen Träumen. Nach zwölf Stunden zwinge ich mich zum Aufstehen. Hier ist es bereits wieder Mittag, während meine Armbanduhr 5.30 Uhr anzeigt.
In einem gewöhnlichen Supermarkt. Freundliche Begrüßungen vom Parkdeck bis hinein in alle Abteilungen - jeder hat das Beste und Billigste. Die Preise - ich würde sagen, so teuer wie bei uns in Deutschland. 1.000 Won sind nicht ganz ein Euro. Überall kann man probieren - was mir meine Schwägerin auch empfiehlt. Sie steckt mir alles Mögliche in den Mund, einiges schmeckt recht streng nach Fisch. In einem großen Aquarium schwimmen vierzig Zentimeter große Krebse - beängstigend aussehende Monster mit riesigen Beinen und maschinenartigen Mundwerkzeugen. Das Trinken sollte man lieber einschränken,
denn der nicht in allzu vielen Variationen angebotene Alkohol ist recht teuer. Es erwies sich als nicht so schlau, auf alle möglichen "lebensnotwendigen Dinge" zu Gunsten des anderen mitgebrachten Gepäcks zu verzichten. Aber meine neuen Verwandten freuen sich über die mitgebrachten Geschenke, sodaß es nicht so schwer fällt, alles Mögliche zu kaufen, was man so zum Leben braucht. So kaufe ich ein paar Turnschuhe (20.000 Won), um aus den Winterschuhen rauszukommen, eine Hose (25.000 Won) - das Billigste natürlich, ferner ein Bier, eine kleine Flasche Wein, zwei Zahnbürsten, Rasierwasser, Rasierschaum, Rasierer, Schokoriegel (nicht so süß wie in Deutschland, trotz der selben Marke), vier Brötchen,
sechs Flaschen Mineralwasser, zwei Päckchen Fisch, ein Glas Kaviar und einen Reiskuchen -
für alles zusammen 112.000 Won.
Zurück in Schwiegermutters kleinem Zimmer, welches stets in den Geruch von Mottenkugeln gehüllt ist. Diese habe ich selbst nie gesehen - der Geruch kommt aber aus dem perlmuttbesetzten Schrank und erinnert mich an meine Kindheit. Mit meinem Vater war ich manchmal in der Gerberei, um Kaninchenfelle abzuliefern - hier herrschte der gleiche, strenge, chemische Geruch. Schwiegervater sitzt in seinem privaten Zimmer und sieht fern, er kommt nur selten heraus. An der Wand über der Tür seines Zimmers hängen chinesische Schriftzeichen und Urkunden auf Marmorplatten - Dokumente seiner Lehrerlaufbahn, stehen auf einem Regal. Im Zimmer selbst über der Tür hängen Bilder der Ahnen -
sein Vater und seine Mutter in altertümlichen Kostümen.


27. Oktober 2006 - Iksan

Unterwegs in des Schwagers Jeep, mit der Schwiegermutter und meiner Frau.
Die ländlichen Gegenden: bewaldete, aber ungewöhnlich spitze Berge, eine Talsperre mit einem Naturschutzgebiet. Reisfelder und Gewächshäuser mit schwarzer Folie bespannt wechseln sich ab. Ein paar Bauern mit ihren Karren. An den Rändern der allseits stark befahrenen Straßen wird auf langen Stoffbahnen Reis getrocknet. "Auch auf dem Land hat man nicht genug Platz und nutzt deshalb selbst die Straßenränder", sagt meine Frau.
Nach etwa einer Stunde Fahrt durch die Talsperrengegend machen wir halt, denn es ist Mittag geworden. Mein Schwager ruft etwas vom Auto aus in Koreanisch einer Frau zu,
die vor einem Haus steht. Kurz darauf betreten wir einen, außer einigen niedrigen Tischen leeren Raum. Es ist ein Gasthaus. An einer Wand stehen ein paar Bänke aus Wurzelholz geschnitzt, die aber nicht zu den Tischen gehören. Der Schwager nimmt sich ein paar Kissen von einem Stapel und legt sich auf einer Decke nieder. Ich erfahre, daß man sich in einem Gasthaus (einem Umschick Jum) stets wie zu Hause fühlen kann. Der Raum ist aber zugig und große Insekten, die ich für Hornissen halte, schwirren umher. Ich bitte darum,
ein paar Fenster zu schließen und nehme auf ein paar Kissen so gut es geht Platz.
Die Gastgeberin trägt nach und nach Unmengen kleiner Schälchen mit vielen bunten Sachen auf. Einiges erinnert an eingelegte Gräser oder Ästchen, Einiges kann ich gar nicht zuordnen. Ich erfahre, daß es sich um getrocknete Süßkartoffeln, Kamm- (Khaki)salat, Kimchi (dem Nationalgericht), verschiedene Pilze und Flußschnecken handelt. Dann bringt sie ein ganzes, gekochtes Huhn, das vor Ort mit einer großen Schere zerschnitten wird. Zum Essen werden auch große Mengen Knoblauch gereicht, der Zehenweise verspeist wird. Nach einem Tag und einem Essen in Korea ist dieser völlig geruchlos und es gibt keinerlei Geruchsbelästigung mehr. Sonst empfinde ich das Essen aber als stark gewöhnungsbedürftig und mich drängt es, öfters mit einem recht milden Getreideschnaps nachzuspülen, der stets zum Essen gereicht wird. Das Getränk muß ich meinen Gastgebern mit beiden Händen einschenken, auch da ich der Jüngste im Raum bin, zeige ich damit meinen Respekt vor den Älteren. Nach dem Essen gehen wir spazieren in einem botanischen Garten mit vielen Bonsaibäumen. Jangmonim (Schwiegermutter) probiert ihren Rollator aus. Vom Garten aus präsentiert sich uns ein weites Tal mit Wald und hohen, spitzen Bergen auf beiden Seiten.
Am Abend in der Stadt. Leuchtreklame, an wirklich jedem freien Platz der Häuser und zusätzliche grelle Neonlampen machen die Nacht zum Tag. Zwischendrin hupende Taxis, Busse und fast ausnahmslos große Limousinen. Zahlreiche Boutiquen, Friseursalons und andere Schönheitsstudios. Schönheit hat hier absolute Priorität, wer nicht schön ist und nicht makellos gekleidet, fällt nicht nur auf, sondern ist auch ein Außenseiter, was hier keiner sein will. Schülerinnen, meist paarweise oder zu dritt mit ihren Uniformen, mit je nach Schule verschiedenem Rock, Kniestrümpfen und einheitlichen Jacken. Weit und breit keine Ausländer - ich falle auf. In Korea gilt es als sehr erniedrigend, arm zu sein -
jeder will sich deshalb so darstellen, als gehöre er zur reichen Zunft.


28. Oktober 2006 - Flut

Ausflug ans Meer. Freunde meiner Frau, holen uns ab. Über eine Stunde fahren wir übers Land. Dann endlich, nach zehn Jahren Abstinenz - sehe ich das Meer wieder. Ebbe, sanfte Wellen und mildes Klima. Es ist möglich, stundenlang im Wasser zu laufen ohne zu frieren. Ein flacher Felsen ragt aus dem Wasser und ist über und über mit Schnecken, Muscheln und eigenartigen Pflanzen bedeckt, einige davon saugen den Finger ein und halten ihn fest, wenn man ihn in sie hineinsteckt. "Das alles zu sammeln und zu essen gehört zur koreanischen Lebensart", sagt der Mann auf Englisch. Eine Stunde sammeln wir Muscheln und Schnecken, die sehr fest am Felsen sitzen. Es stellt sich heraus, daß mir die nötige Übung fehlt, und so suche ich am Strand nach großen Muscheln, weniger über Fragen der Ernährung nachdenkend - als mir auffällt, daß die Flut uns bald eingeholt hat. Als ich zum Aufbruch mahne, ist der Weg, von dem wir glauben, er sei noch frei, bereits überflutet, sodaß wir einen großen Umweg durch Schlamm und über Felsen machen müssen.
Mit blutenden Füßen treffen wir im nächsten Fischerdorf, direkt am Strand ein.
Wir beobachten den Umgang mit dem frischen Fang: In überdimensionalen Aquarien können die Besucher allerlei große Fische, Krabben, Muscheln, Schnecken und schrecklich aussehende große Würmer (Gebul - "Hundeschwanz") bewundern. Gefällt mir ein Tier, wird dieses sofort und vor Ort geschlachtet, zubereitet und im angrenzenden Haus zum Verzehr gebracht. Wir kehren in das Haus ein, vor dem wir uns unsere Füße gewaschen haben -
ein Schlafzimmer, das gerade frei ist, wird hergerichtet - ein paar Sachen werden weggeräumt und der niedrige Tisch eingedeckt. Nebenan, hinter einer Durchreiche, arbeitet die Gastgeberfamilie auf Hochtouren. Unmengen kleiner Schälchen mit vielen Arten frischem Fisch, Muscheln, Schnecken, Tintenfisch, in rohen und gekochten Varianten, dazu Reis, Kimchi, Pilze und mir unbekannte Pflanzen und Tiere werden aufgetragen. Einige kleine Fische werden vor Ort am Tisch gebraten. Ich probiere fast alles, die rohen Muscheln muß ich mit Getreideschnaps nachspülen, weil diese mir doch zu streng schmecken und auch die sich noch bewegenden Tintenfischarme, die aus der Sojasoße herauszuwinken scheinen, kann ich nicht probieren. "Das ist die Garantie, daß der Fisch frisch ist", sagt meine Frau und greift sich mit Stäbchen ein Tintenfischbein. Manchmal mit etwas Überwindung, ein wenig Getreideschnaps und ein paar Zehen Knoblauch, ist mir das koreanische Essen bisher immer bekommen. Man will es vielleicht nicht glauben, aber roher Fisch, hauptsächlich unbehandeltes Gemüse und wenig Gebratenes, stellt nun mal die gesündeste Ernährung dar. Ein wenig Überwindung ist für den der Natur entwöhnten Europäer eben nötig, und nach einer Weile kommt man tatsächlich auf den Geschmack und möchte Einiges nicht mehr missen.
Ein Ausflug in die Stadt Jeonju fördert krasse Gegensätze zu Tage: Eine im hohen Verkehrsaufkommen, in katastrophal schlechter Luft erstickende Stadt auf der einen,
und an strengen Traditionen festhaltende historische Stätten asiatischer Kultur auf der anderen Seite - zwei Welten, die nicht harmonieren, liegen hier dicht an dicht beieinander.
Am Abschluß des Abends bei den Freunden, erweisen sich die gesammelten Schnecken und Muscheln als angenehme Knabberei. Diese werden ausgiebig gekocht und ohne den tief im Inneren des Schneckenhauses liegenden Darm verzehrt, in dem mit Zahnstochern das winzige eßbare Klümpchen herausgepult wird.


30. Oktober 2006 - Ginseng

Nachdem irgendwann im Verlaufe der vielen Gespräche auch das Thema Gesundheit angesprochen worden war, gehen unsere Freunde mit uns zu einem Arzt in Jeon Ju. Es ist einer für orientalische Heilkunde. Nach dem obligatorischen Schuheausziehen vor der Tür, warten wir nicht lange, bis wir drankommen. Der freundliche Koreaner mittleren Alters im weißen Kittel, stellt zunächst keine Fragen und bittet gleich uns alle zusammen herein. Zuerst kommt meine Frau dran, sodaß ich die Prozedur genau beobachten kann: Nachdem wir alle Schmuck und Uhren abgelegt haben, werden meiner Frau winzige Klebestreifen auf bestimmte Punkte der Finger geklebt. Nun legt der Arzt einen Beutel mit brauner Flüssigkeit auf ihre linke Hand, bei der rechten muß sie Daumen und Zeigefinger fest zu einem "O" zusammenpressen. Mit einem kräftigen Ruck öffnet nun der Arzt die Finger meiner Frau. Dann wechselt er die Position der Klebestreifen, legt einen anderen Beutel auf ihre Hand und die Prozedur wird so mehrmals wiederholt. Nach jedem Öffnen der zusammengepreßten Finger "renkt" eine bereitstehende Schwester die Finger des Arztes mit einem besonderen Griff neu ein. Nach mehreren Versuchen und unterschiedlichen Beuteln, legt er auch eine Büchse Fisch, eine Ginsengwurzel und eine Tomate auf die linke Hand meiner Frau. Ich staune und beobachte gespannt jede noch so winzige Einzelheit, habe aber nicht das Gefühl, daß es sich hier um Hokuspokus handelt, denn trotz der seltsamen Prozedur wirkt alles seriös auf mich. Leichte Zweifel am Funktionieren werden auch schnell ausgeräumt, als ich selbst dran bin. Tatsächlich ist jede Kraft in meinen Fingern wie weggeblasen, als der Arzt eine Tomate auf meine Hand legt - die Finger lassen sich ganz leicht öffnen. Die Ginsengwurzel und ein Beutel mit mir unbekanntem Inhalt, bringen sofort die Kraft zurück - der Arzt hat Mühe, das "O" zu öffnen. Den Gedanken,
daß es sich hier um reine Psychologie handeln könnte kann ich mit der Tatsache widerlegen, daß ich ja im Falle der Beutel nicht weiß, was sich darin befindet. Eine Frage an meine Übersetzerin beschert mir die Erkenntnis, daß mein Körper unter anderem Vitamin C und Ginseng benötigt. Am Schluß teilt der Arzt alle Patienten in vier Gruppen ein, von denen eine jede bestimmte Mangelerscheinungen aufweist, die es mit Medikamenten zu beseitigen gilt. Bestimmtes ist zu meiden, bei mir sind es Tomaten und - Gurken! -
immer schon habe ich eine extrem starke Abneigung gegen Gurken, die stets Brechreiz erzeugen. Ich habe schon lange die Vermutung, daß unser Körper wichtige Signale aussendet, die wir nur verlernt haben zu deuten. Der Arzt sagt, daß mein Immunsystem geschwächt ist und ich unter Verdauungsbeschwerden leide - stimmt! Nach einiger Hin- und Herübersetzerei erfahre ich, daß ich meine Milz stärken muß. Nach dem Zahlen von 75.000 Won,
was wiederum unsere Gastgeber erledigen, bekommen wir unsere Rezepte, von einer Schwester ausgehändigt. Bald stellt sich heraus, daß es sich um die Flüssigkeit in den Beuteln handelt, die während meines weiteren Koreaaufenthaltes für ein deutliches Wohlbefinden sorgen soll.
Fazit ist, daß es mit der hiesigen Schulmedizin so nicht getan ist, Krankheiten zu heilen oder gar zu verhindern. Viele Zusammenhänge über unseren Organismus sind mit Sicherheit noch unerforscht, auch wenn die vermeintlich schlauen Wissenschaftler da das Gegenteil behaupten. Es kann doch nur logisch sein, mit der Natur zu heilen, anstatt mit Chemie dagegen. Die Orientalen und Asiaten sind uns hier mit Sicherheit um Einiges voraus. Die Kranken allerdings sollten - wie inzwischen auch in Deutschland, über das nötige Kapital verfügen, um ihre Gesundheit zu verbessern. Indes schließlich ist die Einfuhr dieser scheinbar heilenden Medizin nach Deutschland nicht erlaubt - ebensowenig, wie alle "nichtschulmedizinischen" Heilmethoden selbstverständlich von keiner Krankenkasse unterstützt werden.
Eine Auffälligkeit im Verhältnis Arzt und Patient ist, daß sich hier der Arzt für den Patienten Zeit nimmt und sogar Fragen beantwortet. Der Umgang untereinander in der Öffentlichkeit geschieht mit großem Respekt, Freundlichkeit ist eine Selbstverständlichkeit, über die keiner diskutieren muß und die Rangordnung von Kind, Frau, Mann ist klar gegliedert,
was eine Grundordnung zu schaffen scheint, die unter denen wirksam ist, die noch nicht dem modernen amerikanischen Weg gefolgt sind.
Meine Frau versucht herauszufinden, was in dieser Medizin steckt, um etwas Ähnliches zu Hause zusammenzumischen. Ein Buch zum Thema fördert schließlich noch zu Tage, daß der darin beschriebene Typ Mensch - einer von den vier Kategorien - 100prozentig auf meine Person zutrifft - Mangelerscheinungen, Beschwerden und Charakter - es stimmt genau!

Es ist ein Biobuffetrestaurant, in das uns nun der Älteste der Versammlung einlädt. Nachdem wir wie allerorts üblich die Schuhe draußen in einem großen Regal abgestellt haben, erwartet uns eine reich gedeckte Tafel mit unüberschaubarer Vielfalt an Fisch, Salaten, Suppen und wiederum mir unbekannten Gerichten. Diesmal probiere ich neben vielem anderen, "Bon De Gi", die Puppen des Seidenspinners, die - gekocht und gewürzt in großen Schüsseln - nicht wirklich appetitlich aussehen und streng riechen. Der Geschmack aber erweist sich als durchaus angenehm. Neben unserem Gastgeber, seiner Frau und unseren Freunden und, nehmen wir an einem langen Tisch Platz. Wieder leide ich an Knieschmerzen wegen der ungewohnten Sitzweise auf dem Boden. Nach reichlich sättigendem Essen verabschieden wir uns herzlich mit tiefen Verbeugungen.

Ich lerne meinen 2. Schwager kennen. Er ist gerade aus Deutschland zurückgekehrt,
wo er als Ingenieur ein paar Tage zu tun hatte. Fast hätten wir uns also über den Wolken getroffen. Sehr lebhaft und in gutem Englisch heißt er mich im Kreis seiner Familie willkommen. Das Abendessen nimmt diesmal fast die gesamte Familie im Hause des ältesten Sohnes ein, dessen Frau ich jetzt ebenfalls kennenlerne. Die Namen werden stets in der Reihenfolge Nachname, Familienname und dann Vorname genannt, also von Hinten nach Vorn, für unsere Verhältnisse. Verspeist wird unter anderem einer der riesigen Krebse, die in den Supermärkten zahlreich in Aquarien ihre letzten Tage verbringen,
um bei Bedarf vor Ort geschlachtet zu werden. Jetzt wird das Tier mit einer großen Schere zerlegt. Auf einem Rost, in der Mitte des Tisches, werden Fleischstücke gebraten, die die Männer an die anderen Gäste verteilen, meine Schwiegermutter legt mir zusätzlich noch Krebsfleisch auf meinen Teller. Mein Schwiegervater hat bereits vom Schnaps ein rotes Gesicht. Gespeist wird wieder ausgiebig und lange, sodaß ich auch hier wieder starke Schmerzen in den Knien bekomme, wegen der für Europäer ungewohnten Sitzhaltung im Schneidersitz, denn wir sitzen vor der Couch auf dem Boden. Die Wohnung selbst ist eine jener gewöhnlichen Neubauwohnungen, wie wir sie bezeichnen würden. Die allermeisten Koreaner bewohnen diese oft 15stöckigen Betonblocks, von denen immer neue und höhere gebaut werden - sehr zum Leid des Stadtbildes. Viele der Städte des verhältnismäßig kleinen Landes sind gar erst vor 10 Jahren auf diese Weise entstanden. Bei einer Bevölkerungsdichte von 50 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von 99.392 Quadratkilometern, stellt dies wohl auch eine Notwendigkeit dar.




31. Oktober 2006 - Haegum

Ich lerne meine Nichte kennen, bei einem weiteren Besuch beim Schwager. Viele Gespräche zwischen meiner Frau, der Nichte und der Schwägerin, von denen ich nichts verstehe. Manchmal denke ich, daß sich das Verstehen nach und nach einstellt, wenn man nur genug zugehört hat. Aber das "Babylonsyndrom" ist so unüberwindlich, sodaß keine andere Wahl bleibt, als jedes einzelne Wort mühsam auswendig zu lernen, dazu die Grammatik und die Aussprache - für mich als wenig begabtes Sprachtalent, scheint dies eine unüberwindliche Hürde zu sein. Nach einem Essen, nur mit meinem Schwiegervater und mir in der Küche, besuchen wir den hiesigen Park, in dem gerade der letzte Oktobertag gefeiert wird.
Viele Blumen und Pflanzen sind ausgestellt und der ganze Park ist damit geschmückt. Hier wird wohl gezeigt, daß man viel Wert auf die Erhaltung der Natur legt - was auch sinnvoll ist, wenn man sich wie die Koreaner fast ausschließlich gesund und von der Natur ernährt. In einem großen Zelt sehe ich die Puppen des Seidenspinners - diesmal lebendig.
Die Larven fressen gefärbte Nahrung und produzieren dann gleich die Seide in der vorgegebenen Farbe. Sie selbst erscheinen ebenfalls in dieser leuchtenden Farbe. Während der Besichtigung des Geländes bittet mich das NBC-Fernsehen von Korea um ein Interview. Aus dem Stehgreif fallen mir leider nicht immer die besten Worte ein, sondern erst hinterher. Meine Frau übersetzt, und man sagt uns, daß der Bericht am 11. November gesendet werden soll. Klar, daß es werbewirksamer ist, wenn sich Ausländer für die Ausstellung interessieren.
Am Abend gibt es auf einer eigens dafür gebauten Bühne klassische koreanische Musik.
Die Musik der Solisten übt auf mich schon bei den Proben am Nachmittag eine starke Faszination aus. Nach dem Kauf einer Flasche Bier, die auf dem Gelände zu teuer gewesen wäre und einem Imbiß von einem der zahlreichen, dicht an dicht an den Straßenrändern sich drängenden Ständen, an denen auch ein Europäer für wenig Geld stets etwas Eßbares finden kann, geht es zum Konzert. Geboten wird also klassische koreanische Musik, gepaart mit (wie ich meine) modernen Klängen. Hier bekomme ich einen Einblick in die durchaus interessante Musikszene jenseits der europäisch, beziehungsweise amerikanisch klingenden Schlagerhaften Klänge, die sich jeweils nur in der Sprache unterscheiden,
und die man in jedem Bus, im Supermarkt und an jeder Straßenecke lautstark aufgezwungen bekommt. Ein Orchester mit asiatischen Instrumenten ist zu hören,
ebenso wie expressiver Gesang und ein Soloinstrument, das an eine Sopran singende Frauenstimme erinnert (ein Haegum), das von einer Virtuosin ähnlich wie ein Cello gespielt wird, allerdings nur eine Saite besitzt. Erkundigungen in der fünftgrößten Stadt Koreas, Jeonju und anschließend in Iksan, ergeben keine Hinweise auf vorhandene Tonträger mit der zuvor dargebotenen Musik. Um dazu ein wenig aus meinem Element zu plaudern und das Gehörte zu beschreiben: Strukturen, die mir aus dem Progressivrock vertraut sind, gespielt auf asiatischen Instrumenten, garniert mit exklusiven und exotischen Soloinstrumenten, einer emotionalen Frauenstimme begleitet, die abwechselnd vom Flüstern ins Schreien, dann ins Sprechen wechselt, das alles in ausufernden, langen und kompliziert aufgebauten Stücken, zeugen von einer intakten Musikszene, die allerdings wie in Deutschland und sicherlich inzwischen in den meisten anderen Ländern, im Untergrund stattfindet, da die oberflächliche Kommerzmusik, Schönheit und Kreativität in der Musik verdrängt hat, was zur Folge hat, daß viele Menschen Musik jenseits von Strophe, Strophe Refrain gar nicht mehr begreifen können und mit dem existierenden, extrem vielfältigen Universum des Klangs nichts mehr anfangen können. Hier gilt ebenfalls: Um die schönsten und wertvollsten Perlen zu finden, muß man tief tauchen und intensiv suchen.
Es ist kalt geworden - zu kalt um noch weiter sitzenbleiben zu können, gerne hätte ich noch weiter zugehört.


1. November 2006 - Der fortschrittliche Kapitalismus

Schönes Wetter mit 25 Grad in der Sonne, am ersten Novembertag. In Jeonju will ich -
um noch ein wenig beim vorigen Thema zu verweilen, nach seltenen Instrumenten und den in ihnen schlummernden, ungehörten Klängen forschen. Die Suche muß aber verschoben werden, da das einzige Geschäft, welches traditionelle Instrumente führt, heute geschlossen ist. Geschäfte mit Instrumenten, die die vorgefertigten Radioklänge liefern, gibt es allerdings zuhauf, was wohl meine Ausführungen bestätigen dürfte.

Ich lerne zwei weitere Freunde meiner Frau kennen, sie Cellistin und Lehrerin auf diesem Gebiet, er Zahntechniker - beide mit recht gutem Auskommen also. Da sie nach 6jährigem Studium in Deutschland recht gut meine Muttersprache spricht, kann ich (es fühlt sich befreiend an), endlich einmal wieder etwas verstehen und ohne Dolmetscher sprechen.
Die beiden wollen nach Kanada auswandern, dort sind die Verdienstmöglichkeiten als Zahntechniker besser und es bleibt mehr Zeit zum Leben.
Ein Arbeiter hat eine durchschnittliche Tagesarbeitszeit von 12 Stunden. Ein Schüler geht um 7.30 Uhr zur Schule und kommt oft erst um 22.00 Uhr oder später nach Hause, da er noch Nachhilfestunden und Sonderkurse absolvieren muß. Wenn er das Abitur schaffen will, was nötig ist, um im Leben voranzukommen, kommt er auch schon mal um 1.00 Uhr nach Hause. Wer ein erträgliches Leben führen will, ist gezwungen, seine ganze Zeit und Kraft dafür einzusetzen - und so gehören diese Vollzeitarbeitstage und die kurze Urlaubszeit von etwa fünf Tagen (wenn überhaupt), zum Alltag des Koreaners, für den stets gilt: Nur der Beste, Schönste und Stärkste wird überleben. Das ist der hohe Preis des fortschrittlichen Kapitalismus, der zwar das technische Niveau auf einer hohen Stufe hält, Städte wie Pilze aus dem Boden wachsen läßt und eine kaum noch zu überbietende multimediale Dauerberieslung auf sein völlig übervölkertes kleines Land ergießt, auf der anderen Seite aber wenig Achtung dem Individuum zollt. Man fragt sich, wo denn da noch Nischen für Neuzugänge zu finden sein könnten. Für Arbeitslosigkeit, Müßiggang und Außenseitertum jedenfalls ist kein Platz. Wer seine Arbeit verliert und nicht das Glück hat, von der Familie aufgefangen zu werden, gehört, wenn ihm nicht eine zündende Idee kommt (wie z.B. Fisch kaufen und anschließend wieder teurer verkaufen), schon bald zu den zahlreichen Selbstmördern, über die und deren Zahl man nur ungern spricht. Logisch also daß, wer das nötige Maß an Überlebenswillen besitzt, sich in das bestehende System, wo Wissen, Schönheit, Kollektivbewußtsein, Korrektheit und Linientreue zur obersten Priorität zählen, absolut fügt. So lernen schon die Kleinen ihre Gefühle, soweit vorhanden, zu verbergen, und sich durch bedingungslosen Gehorsam ins Kollektiv einzufügen, denn wer auffällt, vermindert seine Chancen. Individualität ist hier allenfalls durch die von Schule zu Schule verschiedene Schuluniform zugelassen.
Wir besuchen einige Sehenswürdigkeiten. Es ist ein Museum aus der Kaiserzeit. Zu sehen sind reich verzierte, große Häuser der Reichen, auf Pfählen, deren Bauweise völlig ohne Nägel auskommt. Sie stehen auf runden, flachen Steinen - so sind sie erdbebensicher. Eines davon ist eine Bibliothek, bei der, neben der Erdbebensicherung, viel Wert auf die richtige Belüftung gelegt wurde, damit das in ihr enthaltene Wissen die Zeit überdauern kann.

 

2. November 2006 - Der Pazifik

Zum zweiten Mal fahren wir zum Pazifik. Nach einer weiteren unruhigen Nacht versäume ich die anderthalbstündige Busfahrt ans Meer. Das Wasser ist inzwischen kalt geworden.
Flut, das Wasser ist greifbar nahe. Trotz der Flut verhält sich das Meer sehr ruhig, es gibt kaum Wellen und auch nicht den typischen Geruch. Das Wetter ist schön - in Thüringen,
so erfahre ich am Telefon, fiel der erste Schnee.
Irgendwie dreht sich alles ums Essen, nach einer kurzen Rast am Strand begegnen uns wieder die mit den sonderbarsten Meerestieren prall gefüllten Aquarien, wieder wird ein Tisch gedeckt. Die Schälchen sind so zahlreich, daß ich Mühe habe, alles auch nur zu probieren. Immer kommen neue hinzu, sodaß schon mehrere Etagen entstehen. Diesmal gibt es neben verschiedenen Muscheln auch den wie ein riesiger Bandwurm aussehenden Gebul, der in kleine Stücke geschnitten, roh verzehrt wird. Das Tier scheint nicht totzukriegen zu sein, alle Teile bewegen sich, werden größer und kleiner und versuchen anscheinend, sich wieder zusammenzufügen. Auch die Tentakel vom Tintenfisch bewegen sich wieder in der Soße - ohne Zweifel ist das alles frisch. Bei aller Toleranz, Neugier und Abenteuerlust kann ich mich noch immer nicht überwinden, die fast noch lebendigen Tiere zu essen. Stark gewöhnungsbedürftig sind auch nach wie vor die rohen Muscheln und der Fisch.
Mit den Tieren wird nicht zimperlich umgegangen. Nach der Lagerung in den für die Tiere zu engen Aquarien, in denen sie sich oft stapeln, wird bei Bedarf der Kopf abgehackt, sie werden einfach in kochendes Wasser geworfen oder wie der Wurm, lebend zerschnitten. Die riesigen Mengen Fisch können für ein Millionenvolk natürlich nicht so zahlreich im Meer gefangen werden. Vieles wird in abgegrenzten Bereichen in Strandnähe gezüchtet oder muß importiert werden, was natürlich auch den Preis von 80.000 Won für ein solches Essen (für vier Personen), erklärt. Bleibt zu hoffen, daß noch genügend nachgezüchtet werden kann, denn das Meer gibt die benötigten Mengen, genau wie das Land den Platz für Wohnungen, schon lange nicht mehr her. Also wird auch hier ein Teil vom Strand abgeriegelt, trockengelegt und bebaut. Bei einem solch rasanten Verbrauch an Land, Luft, Nahrung und Brennstoffen frage ich mich, wie das alles regeneriert werden kann -
ich denke, eher gar nicht. Die Nachfrage ist da, also wird einfach genommen, was gebraucht wird.
Spazieren auf einer riesigen Betonpiste auf dem Weg ins Meer. Auf der rechten Seite befindet sich ein langes Band von Ständen, an denen Meeresfrüchte angeboten werden. Bänke zum Ausruhen gibt es nicht, wer sich also hinsetzen will, muß einkehren und essen. Mit der Barriere wurde ein Hafen geschaffen und Platz für die vielen Stände.


3. November 2006 - Das Leben der Hunde

Wir besuchen die Universität von Iksan, ein riesiges Gelände mit Parks, Botanischen Gärten und lauter Musik.
Nach einem kurzen Ausflug aufs Land, das sich gleich hinter den allgegenwärtigen 20-stöckigen Hochhäusern findet, offenbart sich eine der dunkleren Seiten des Landes: Zwischen heruntergekommenen Gebäuden, Müllhaufen und solchen mit stinkenden Essensresten, die am Wegesrand abgekippt wurden, steht eine kleine Hundefarm. Inmitten großer Gerümpelhaufen unter teilweise mit Plastikfolie abgedeckten Verschlägen, sitzen apathisch in winzigen Käfigen, Hunde. Der Gestank ist unerträglich. Sehr nah wage ich mich mit meiner Kamera nicht heran, denn nicht weit entfernt sehe ich Rauch und Leute um große Bottiche stehen….
Gleich um die Ecke, neben Reisfeldern gibt es unnatürlich aussehende Hügel - Gräber,
sagt meine Frau. Immer das oben auf dem Berg stehende und größte ist das des Vaters -
alle anderen Nachkommen ordnen sich darunter an. Die Hügel fallen durch ihre perfekten Rundungen und das sauber und kurz geschnittene Gras darauf auf.
Nach der Wanderung abseits der offiziellen Wege, folgen wir der Einladung des 2. Bruders meiner Frau und speisen wieder fürstlich allerlei Meeresgetier. Die Hunde scheinen vergessen. Viele Gespräche, von denen ich kein Wort verstehe. Nur bei meiner kleinen Nichte brauche ich keine Worte - Spielen braucht keine Übersetzung.
Am Abend in der Stadt bombardieren die Geschäfte wieder ihre Besucher nicht nur mit strahlend hellen und das Auge blendenden Lichterbatterien, sondern auch mit lauter und in jedem Geschäft unterschiedlicher Musik, dazu telefonieren die Koreaner überall und in jeder Lebenslage, besonders störend für mich - während dem Essen. Wieder unerträgliche Reizüberflutung, garniert mit mannigfaltigem Verkehrslärm.


4. November 2006 - Reis für Buddha

Eine weitere viel zu kurze Nacht ist um - zu spät ins Bett und zu früh auf. Es gab ein Gewitter, die vom Wind klapperten Türen weckten mich. Regen war vom 13. Stock, wo sich unsere Wohnung befindet, nicht zu hören. In jeder Wohnung gibt es einen Lautsprecher, aus dem manchmal die Stimme vom Hausmeister erschallt. Ungläubig nehme ich zur Kenntnis, daß diese Lautsprecher keinen Ausschalter besitzen, was in mir ein unbehagliches Gefühl erzeugt - ich fühle mich in meiner Privatsphäre verletzt. Wenigstens nachts gab es bisher keine Durchsagen. Wir fahren mit dem Fahrstuhl runter und dann mit dem Taxi nach Iksan, wo unser Tag beginnt. Die Taxen patrouillieren regelmäßig die große Straße entlang, sodaß eine Wartezeit von ein paar Minuten genügt und ein kurzer Wink. Für etwa 3.000 Won ist es kein Problem, jeden Tag mit dem Taxi die 5 Kilometer hin und zurück zu fahren.
Der Supermarkt öffnet um 10.00 Uhr. Alle Mitarbeiter sind auf ihrem Platz an den Eingängen angetreten und machen zu dem 7-fachen Ausruf "An Jong Ha Se Jo" (Guten Tag) tiefe Verbeugungen. Es ist wohl so eine Art Motivationstraining, um die Mitarbeiter auf ihren langen Tag, der um Mitternacht endet, einzustimmen. Der Tag kann beginnen.

Fahrt aufs Land. Besuch eines buddhistischen Tempels. Mehrere große, reich verzierte Gebäude bilden eine Anlage. Den Zugang bildet ein Tor, in dem mehrere überlebensgroße Krieger den Gläubigen vor Dämonen schützen sollen. Auf einer Anhöhe das Heiligtum mit ebenfalls überlebensgroßen Buddhafiguren, alles über und über mit Gold überzogen. Drinnen darf nicht fotografiert werden, von außen ins Innere gelingen aber trotzdem ein paar Fotos. Ich will auch nicht hinein - immer müssen die Schuhe ausgezogen werden.
So warte ich ab, bis alle betenden Gläubigen den Raum verlassen haben, dann mache ich Fotos. Viele Gläubige kaufen an einem der Stände im Inneren der Tempel einen Sack Reis für 20.000 Won, um diesen Buddha auf einem bereitstehenden Teller zu opfern. Der Reis wird sicher abends wieder abgefüllt und am nächsten Tag an weitere Besucher verkauft. Draußen an einem Schrein zünden Kinder Kerzen an. Auch kann man Ziegel kaufen, mit deren Erlös wieder neue Tempel errichtet werden - sicher auf jedem Berg befinden sich größere oder kleinere Tempel. Dieser hier scheint eine der größeren Tempelanlagen darzustellen. Ich schaue mir jedes Gebäude an, jedes ist anders eingerichtet - es gibt viele schrecklich aussehende Schutzgeister, die die Tempel bewachen, eine große Glocke, die an Feiertagen mit einem Baumstamm angeschlagen wird, einen ganzen Hofstaat mit Buddhas, Kindern und wiederum Schutzgeistern, alle dargestellt mit kleinen Puppen, die den eintretenden Besucher anschauen, und an den Decken hängen viele kleine Zettelchen,
auf denen die Namen der großzügigen Spender stehen. Der Gläubige tritt, nachdem er sich vor der Tür die Schuhe ausgezogen hat, mit vielen Verbeugungen in die in duftende Rauchschwaden gehüllten prächtigen Räume. Zugegeben, eine gewisse Faszination übt das schon auch auf den andersgläubigen Besucher aus. Die Menschen waren eben schon immer empfänglich für die verschiedensten Kulte, die sie in mannigfaltigen Variationen ausleben - nicht umsonst warnt ja die Bibel vor dem sich Niederwerfen vor Götzen.
Ein Mönch mit kahl rasiertem Schädel, in grauen Gewändern, ein noch junger Mann, durchschreitet das Gelände.
In Korea gibt es Hunderte verschiedener Religionen, in dem kapitalistischen Land ist alles erlaubt, und es gibt meines Wissens keine Streitereien, über Unterschiede in deren Ausübung, solange diese nicht dem Staat widersprechen.
Von Klein auf wird der Koreaner - so weit das noch nach traditionellen Maßstäben geschieht, mit militärischer Strenge zur Disziplin erzogen - damit er später völlig in der Gesellschaft funktioniert. Diese Strenge wird durch die überall anzutreffende Uniformierung unterstrichen, die schon in der Schule beginnt und so Individualität unterbindet, auf der positiven Seite aber dem Konkurrenzdenken entgegenhandelt. Die jungen Menschen werden schon früh auf ein Leben für die Arbeit vorbereitet, schließlich werden sie fast ihr ganzes Leben im Beruf verbringen.

Beim Abendessen sind fast alle Familienmitglieder anwesend. Ich lerne meinen Neffen kennen, der gerade versucht, mit Geistesabwesenheit seinem Prüfungsstreß zu entfliehen. Diesmal gibt es Rindfleisch, das vor Ort gebraten wird. Die Schüsselchen stapeln sich bereits in der zweiten Lage übereinander. Große Mengen Knoblauch werden heute verbraucht und es fließt reichlich Getreideschnaps. Mein Schwiegervater steht auf und alle folgen ihm - das Essen ist beendet.


5. November 2006 - Die Nacht ist kurz

Es sollte ein ruhiger Sonntag werden und so geschah auch nichts weiter Nennenswertes. Beim Abendessen in der Stadt essen meine Frau und ich japanische Gerichte, diese kosten 5.000 Won (5 Euro) und machen satt. Die Innenstadt ist wie immer hell erleuchtet, es gibt hier keinen Sonntag und alle Geschäfte sind wie immer bis Mitternacht geöffnet. Viele Stände mit Obst, Gemüse und Fisch in einer Seitenstraße. Ein Händler hat sich in eine Decke gehüllt und sieht fern, während seine Frau im Vordergrund Weintrauben verkauft.
Es lohnt sich sicher nicht, nach Hause zu gehen, die Nacht ist kurz und morgen ist wieder ein Tag. Mit den überall anzutreffenden Fernsehern kann man sich am Arbeitsplatz wohler fühlen und ablenken – schließlich verbringt man ja sowieso hier die meiste Zeit. Die, die nicht fernsehen telefonieren: Beim Warten, Essen, Gehen, Stehen und Arbeiten. So hat die Technik sich den Menschen untertan gemacht.


6. November 2006 - Jeonju

Mit Dauerregen und Kälte fällt der geplante Ausflug ans Meer ins Wasser. So bleibt nur die verhaßte, laute Stadt Jeonju. Dichter Autoverkehr und Geschäft an Geschäft bestimmen auch hier das Stadtbild. Ich kaufe einen Gong für meine wachsende Instrumentensammlung. Dann schließlich müssen wir uns der Verpflichtung widmen,
den Verwandten und Bekannten eine Kleinigkeit mitzunehmen - doch was soll man kaufen -
von allen Seiten brüllt das Licht, die Farben und die laute Musik verursachen die bereits bekannte Reizüberflutung, die wiederum die Wahl erschwert. Uns Touristen rettet am Ende die Gepäckgewichtsbeschränkung auf 20 kg pro Person. Die Anderen aber haben diesen Schutz nicht und sind (vorrausgesetzt im Besitz von Geld), dem Materialismus auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Bei all der Hektik fällt aber positiv auf - das heißt, es fällt erst gar nicht auf, weil es so angenehm und damit selbstverständlich scheint: Es wird selten geraucht. Während der inzwischen zahlreichen Gaststättenbesuche, in öffentlichen Gebäuden, auf der Straße und auf Busbahnhöfen herrscht eine fast vollständige Abwesendheit des stinkenden Qualms. Es gilt als unanständig und unschön, und wer es tut, tut es meist nicht so ungeniert und provokativ, wie das bei uns der Fall ist. Auch hier zeigt sich, wie eine an sich völlig logische Sache, nämlich, daß man seine Mitmenschen nicht mit gesundheitsschädlichem Qualm belästigt, funktionieren kann.
Schönheit und Ansehen scheinen wirklich das Thema Nr. 1 zu sein. Sich völlig fremde Menschen reden über ihr Aussehen, wie über das Wetter. Bärte gelten als unanständig, niemand geht hier unrasiert oder gar in unordentlicher Kleidung umher. Jeder will zeigen, daß er ordentlich, schön und reich ist. Für Körperpflege und Schönheit wird, ebenso wie für große Autos und teuer aussehende Fassaden, viel Geld ausgegeben. Auch die Gesundheit wird großgeschrieben - was eigentlich auch selbstverständlich sein sollte, zeigt sich im reichhaltigen, natürlichen Nahrungsangebot. Nur ob es unbedingt Hundefleisch sein sollte? Jedenfalls wird das allen Orts empfohlen.


7. November 2006 - Die Kultur des Todes

Ein sonniger Tag, aber recht kalt. Ich steige um auf Winterklamotten. Endlich geht es aufs Land. Ziel war eigentlich, den hiesigen Friedhof zu besuchen, denn wie ich hörte, gibt es auch hier Interessantes zu berichten. Zunächst also der Friedhof:
Mit dem Bus geht es durch die ganze Stadt - und das für ganze 2.000 Won, sodaß ich mich frage, warum denn die Meisten lieber mit ihren Autos im Stau stehen. Die normalen Leute besuchen ihre verstorbenen Angehörigen nur zu bestimmten Tagen im Jahr, was vor allem im Konfuzianismus, der Religion meines Schwiegervaters, Brauch ist. Dann wird für die Seelen der Verstorbenen viel Aufwand getrieben: Essen wird gekocht und die ganze Familie fährt damit zum Friedhof, bzw., diejenigen, die Land dafür gekauft haben, zu ihrem Berg, wo die Gräber der Familie sind. Wenn das Essen kalt geworden ist, müssen die Familienangehörigen es selbst essen. Stirbt der Vater, so wird im günstigsten Falle, das heißt, mit dem nötigen Geld, möglichst ein sonniges Stück Land auf einem Berg gekauft,
wo der Vater unter einem runden Erdhaufen begraben wird. Früher wurde verlangt, daß der älteste Sohn drei Jahre in einer kleinen Hütte, neben dem Grab, zu Ehren des Vaters, lebt. Heutzutage, wo nicht für alle mehr das entsprechende Land vorhanden ist, werden eben Friedhöfe benötigt. Auch gibt es jetzt viele verschiedene Religionen mit ihren verschiedenen Ansprüchen in dieser Hinsicht. Dennoch sind alle Gräber gleich: Ein Erdhügel mit einem schmalen Stein davor. Unterscheiden tut sich nur das eingravierte Symbol,
was die Art der Religion anzeigt - so gibt es Kreuze, Hakenkreuze oder den Kreis. Als Daten werden noch Geburts- und Sterbedatum, jeweils nach Sonne und Mond und die Namen der Familienangehörigen ergänzt. Eine immer gleiche Vase mit bunten Kunstblumen schmückt das Grab. Der Koreaner will selbst im Tod nicht durch Individualität auffallen. So gibt es nur wenige anders aussehende Gräber - zumeist sind dies die großen Grabstätten der Reichen, die diese mit überdimensionalen Steinen oder Figuren, wie der der Schildkröte oder Buddha, verzieren. Die Armen müssen zudem mit der der Sonne abgewandten Seite des Friedhofes vorliebnehmen. Einige Gräber sind aufgebrochen. Hier ist der Tote umgebettet worden, was in der "Kreis-Religion" ein weit verbreiteter Brauch ist. Man wartet, bis die Leiche verwest ist, gräbt dann die Knochen wieder aus, um diese an einen sonnigeren Platz umzubetten. Hierbei werden die sterblichen Überreste eines Ehepaares wieder vereint, indem sie in dasselbe Grab kommen. Auch glaubt man beispielsweise, wenn etwas in der Familie nicht stimmt, etwa eine Krankheit, daß dann ebenfalls der Tote umziehen sollte. Viele Fragen bleiben hier offen - wie es scheint, ist es hier wie überall schwer,
etwas Näheres über den "letzten Lebensabschnitt des Menschen" in Erfahrung zu bringen.
Zwei Totengräber haben gerade zwei neue Gräber ausgehoben - jetzt machen sie Pause. Ich werfe einen Blick in die Gruben, die mit Steinen eingefaßt, aber nicht tief sind. Vielleicht nur etwas über einen Meter, schätze ich. Nebenan, auf einem alten Gräberfeld, das nur noch durch seine Betoneinfassungen als solches zu erkennen ist, brennt ein Müllhaufen. "Das sind die Überreste, die Besucher zurückgelassen haben. Das schöne, mit Blumen geschmückte Gräberfeld ist neu, deshalb wird es gepflegt", erfahre ich.
Hinter dem Friedhof, auf dem sich an diesem Tag außer den Totengräbern und uns beiden keine lebende Seele findet, geraten wir wieder auf Reisfelder. Gewächshäuser stehen vereinzelt neben niedrigen Wohnhäusern und kleinen Gehöften. Auch hier finden sich gleich neben den Häusern Grabhügel - oben der Vater, etwas darunter und kleiner, die Mutter, darunter die Kinder. Zwischen abgeernteten Reisfeldern, auf schmalen Verbindungswegen, die die Felder erst begehbar machen - denn das Wasser steht ja das ganze Jahr hindurch auf ihnen - geraten wir wie durch Labyrinthe zu einem kleinen Gehöft. Eigentlich besteht es nur aus einer ärmlichen Hütte, allerdings mit dem typischen geschwungenen Dach, einer baufälligen Scheune und ein paar Feldern. Wir fragen eine alte Frau, wie wir wieder zur Stadt kommen, denn eine richtige Straße ist nicht erkennbar. Die Alte leidet wie viele ihrer Altersgenossinnen unter einem stark durch Osteoporose gebeugten Rücken. Sie stützt sich auf den obligatorischen ausrangierten Kinderwagen - auch meine Schwiegermutter bewegt sich so fort. Ohne diese Gehhilfe stützt auch sie sich mit den Händen auf ihren Knien ab. Die Alte weist uns den Weg, dem wir durch eine schmale Gasse folgen.
Unterwegs treffen wir auf eine Frau, die gerade in ihrem Gewächshaus Ingwer für Medikamente zubereitet. Freundlich bittet sie uns in ihr Haus, wo sie uns Kamm (Khaki) anbietet, die jetzt, zur beginnenden Winterzeit in großen Mengen geerntet werden.
Diese entfalten erst überreif und entsprechend weich ihren Geschmack. Die nicht ganz handgroßen orangeroten Früchte sind so bis in die Winterzeit hinein genießbar. Vor Ort erfahre ich also endlich, wie man die auch bei uns seit der Wende bekannten Früchte, verzehrt.
Diesmal auf einer Couch platzgenommen, erfahren wir, daß ihr Sohn in der Stadt studiert und ihre Tochter Cellolehrerin ist - beides wohl Notwendigkeit im Land der Gegensätze. Auch ihr Mann verdient das Geld in der Stadt, eine Tatsache, die die auffällige Abwesendheit von jungen Menschen auf dem Lande erklärt. Wir besichtigen die vollständige Familie auf einem großen bunten Bild, in einem teuren Rahmen über der Couch, erfahren, daß die Frau ihr Glück erst kürzlich im christlichen Glauben fand, wovon ein ebenso großes Bild von Jesus, an der gegenüberliegenden Wand zeugt, und werfen einen Blick in die Räumlichkeiten des kleinen aber nicht ärmlichen Hauses. Zum Abschied bekommen wir noch eine große Tüte Kamm als Wegzehrung geschenkt. So machen wir uns auf - zurück zur Stadt.

Am Abend ein Essen mit der Cellolehrerin und dem Zahntechniker, die uns ins teuerste Restaurant der Stadt Jeonju einladen. Mit tiefen Verbeugungen werden wir von einem Ganzen Stab Personal empfangen - Koreaner in bunten aber nicht landestypischen Kostümen. Die Räume sind kunstvoll dekoriert, in gedämpftes Licht gehüllt, sehr geschmackvoll eingerichtet und mit High-Tech garniert. Überall gibt es überdimensionale Fernseher, sogar auf der Toilette, damit die Dauerreizüberflutung nicht etwa völlig unterbrochen wird. Es gibt sogar Stühle und Bänke und zum ersten Mal esse ich wieder mit Messer und Gabel. Die Speisen, ebenfalls aufs Feinste garniert, sind eine Mischung aus Koreanisch und anderen Ländern - hybrid sozusagen. Es gibt einen Spielraum für den 4-jährigen Sohn, den ich heute kennenlerne - so können sich die Erwachsenen ungestört unterhalten, Diener kümmern sich um den Kleinen. Im Restaurant riecht es ausschließlich nach den exklusivsten und teuersten Speisen, eine angenehme Erfahrung, denn es fehlt auch hier der stinkende Zigarettenrauch, der bei uns den Geruch der Speisen überdeckt.
Sicher wollen die beiden sich schon mal etwas auf ihre Auswanderung nach Kanada im nächsten Jahr vorbereiten, indem sie auch mal nichtkoreanisches Essen probieren.
In Toronto verdient der Zahntechniker 3.000 Euro im Monat und hat Zeit für sein Leben und das des Kindes, erfahre ich jetzt genauer. In Korea bedeutet dieser Beruf nicht sehr viel, der Verdienst ist wesentlich geringer und er verbringt fast sein ganzes Leben am Arbeitsplatz. So verlassen inzwischen viele aus diesen Gründen das Land - wenn sich die Chance bietet, wandern sie aus. Die Ausbeutung am Menschen scheint anderswo noch nicht so drastische Formen angenommen zu haben. Auch viele Deutsche verlassen ja inzwischen ihr Land, um sich anderswo ein besseres Leben zu gönnen - der Trend hält also an, und so machen sich immer mehr Menschen, die längst die Nase vom immerwährenden Kampf um den besten Platz voll haben, auf die Suche.
Nachdem uns die Drei nach Hause gefahren haben, verabschieden wir uns herzlich, mit dem Versprechen, uns in zwei Jahren in irgendeinem Land wiederzutreffen - vielleicht in Deutschland.


8. November 2006 - Weil du arm bist ...

Treffen mit einer weiteren Freundin meiner Frau, einer kleinen, unscheinbaren Frau, der das Schicksal bislang nicht so hold war, wie den anderen, hatte so keine Chance, einen Mann kennenzulernen. Jetzt muß sie sich neben der Arbeit als Englischlehrerin für Kinder, wie meine Frau früher (eine Tätigkeit, an der großer Bedarf besteht), um ihre kranke Mutter kümmern, die von der Dialyse abhängig ist.
Die Mutter sieht nicht gut aus, und wiegt nur noch 45 Kilo. Wir begleiten die beiden zur Dialysestation. In dem Krankenzimmer sitzen vielleicht 10 Patienten - auch junge Leute auf ihren Betten, und lassen die belastende Prozedur über sich ergehen. Über den Betten sind Fernseher angebracht. Hier helfen sie, von den Geräuschen der Dialysemaschinen und den Schmerzen abzulenken. Die Mutter bekommt einen schrecklichen Hustenanfall und die Tochter und meine Frau versuchen diesen durch Rückenmassagen zu lindern.
Die Schwestern kümmern sich nur um das Einrichten der Apparate. Die vielen zuckenden und mit Blut gefüllten Schläuche machen mir Angst. Schrecklich zu wissen, daß das Leben für diese Menschen nur von diesen Maschinen abhängt. Die Mutter müßte drei Mal in der Woche an die Maschine, eine dieser Prozeduren kostet jeweils 60.000 Won. Wäre sie nicht privatversichert, käme die Dialyse jeweils 260.000 Won. Das ist beides zu teuer, so bekommt die kranke Frau eben nur eine Dialyse pro Woche und die Freundin meiner Frau ist wohl froh, wenn die Mutter bald stirbt - so hart das auch klingt. Man sieht, daß sie unter dem Streß sehr leidet, doch sie würde sich nie beklagen - Koreaner zeigen ihre Gefühle nicht. Wir führen die Mutter, die kaum noch gehen kann, zum Auto. Wir spüren ganz deutlich, daß sie bald frei sein wird und in Australien ein neues Leben beginnen kann.
Die Krankheit der Armen schmerzt mehr aber währt am Ende nicht so lang.

Wir besuchen ein älteres Ehepaar um die Ecke. Eine Gelegenheit, zu fragen, wie es denn in Korea um die Altersversorgung bestellt ist. Auch wenn es sich offiziell nicht gehört,
über solche Dinge zu sprechen, so ist in meinem Fall, als interessierter Ausländer,
eine Ausnahme erlaubt: Der Mann war Beamter, daher bekommt er eine einmalige Abfindung inklusive einer monatlichen Rente, deren Höhe ich natürlich nicht in Erfahrung bringe.
Der gemeine Arbeiter, so erfahre ich, muß während seines Arbeitslebens sparen, damit er im Alter etwas hat. Gute Gründe also aus seinem Leben das absolut erreichbar Beste zu machen - was natürlich das starke Streben nach Abitur, Studium und Beamtentum erklärt. In einem Gesellschaftssystem wie dem Kapitalismus gibt es nun mal wenig Platz für Arme und Kranke.


9. November 2006 - Auf einer Insel

Wir fahren auf die Sunju-Insel, eine von 3.000 größeren und kleineren Inseln um Süd-Korea. 11 Stunden Fahrt mit einer kleinen Fähre. Ich schlucke eine Reisepille, was sich als absolut notwendig herausstellt, denn es ist heute schwerere See als sonst, und mein Gleichgewichtsorgan ist nicht von der besten Sorte. Ein paar Mal stellt sich wieder das kurze Gefühl von Wahnsinn ein. Das Mittel betäubt aber, und mit festem Blick auf den Horizont vergeht die Zeit schnell. Bald falle ich in einen Dämmerzustand, der Drang, mich zu bewegen schwindet und ich schaffe es ohne Übelkeit.
Schon kommt Land in Sicht. Es ist eine ganze Inselkette, verschiedene Inseln sind durch Brücken verbunden. In einem kleinen Hafen, bei Ebbe legt das Schiff an. Meine Frau hat während der Fahrt schon für eine Unterkunft gesorgt, die ihr eine ältere Frau anbot. Wir schleppen Seile, Kisten, Pakete und einen Anker den steilen Steg hinauf zu einem bereits wartenden Auto. Eine kleine Ansammlung der üblichen Häuser, die in ihrer Anordnung keinem Konzept zu folgen scheinen, ein Geschäft mit Waren des täglichen Bedarfs und Türen mit Hunderter Nummern weisen auf freie Zimmer hin. Das uns zugewiesene Zimmer ist nicht größer als 7 Quadratmeter und beherbergt außer einem Kühlschrank, ein paar Decken und dem obligatorischen Fernseher, nichts. Nach einem Essen in der Küche und dem Zahlen von 30.000 Won für die Nacht, erkunden wir die Insel - soweit sich das zu Fuß bewerkstelligen läßt. Es ist inzwischen Flut und das Meer kommt bis an die Betontreppen, die zum Strand hinunter führen. Da und dort ein paar Häuschen mit blauen Dächern, die schon bekannten Aquarien mit auch hier teilweise nie gesehenen Meerestieren - zum Schlachten bereit; dazwischen verrostete Fahrräder zum mieten, von denen die Hälfte einsatzbereit ist; kleine Überdachungen mit Stühlen darunter und freundliche Fischer,
die rufen: "Bei uns gibt es den frischsten Fisch!" Zwischen Lagerschuppen, Fischerkähnen, Netzen und prall voll gefüllten Säcken mit Austern und großen Schnecken, die scheinbar vergessen am Wegesrand liegen, finden sich Müllhaufen neben Totems zur Abschreckung von bösen Geistern und vereinzelte Hügelgräber und Grabsteine - Platz ist natürlich auch hier Mangelware, und so zieren etliche Grabhügel auch die Straßenränder - gleich daneben wieder Verschläge mit Stühlen, wo man sich zum Essen niederläßt und nebenan eine Tanksäule. Wir passieren etliche Brücken, gelangen so auf weitere kleine Inseln und lassen unsere Füße am Strand von den Wellen umspülen. Das Meer, das gar nicht so riecht,
wie man es vielleicht von unserer Ost- oder Nordsee gewohnt ist - es fehlt der typische Fischgeruch, ist inzwischen recht kalt geworden. Der Strand jedoch ist voller Leben: Muscheln verschiedenster Arten, Schnecken, Seesterne und vieles mehr, eine Art Kellerasseln huscht über den Sand. Seevögel gibt es nur wenige, nur vereinzelt Möwen und Fischreiher. Es ist diesig an diesem Abend, so sind die umliegenden Inseln nur schemenhaft auszumachen. Früh legen wir uns schlafen. Der Boden ist hart aber warm,
da die überall anzutreffende Fußbodenheizung eingeschaltet ist - was ohne vorhandenes Bett auch wünschenswert ist. Es klopft, und die Wirtin bringt uns noch eine Schüssel Nudelsuppe mit Muscheln, die wir liegend löffeln.


10. November 2006 - Ebbe

Um 6.30 Uhr des jungen Tages wecken mich Hammerschläge und Holzsägen - das Fischerleben hat längst begonnen, und auch die Hal Mo Ni (Oma) des Hauses ist schon Muscheln sammeln gegangen. Einmal geweckt, ziehen wir alle verfügbaren Kleidungsstücke an, denn es ist kalt und windig, und wir machen uns auf, die andere Seite der Insel zu erkunden. Ein Schild weißt zum Gipfel eines der höchsten Berge der Insel, und wir wagen den Aufstieg. Auf bewaldeten und steinigen aber gut begehbaren Pfaden sind wir eine halbe Stunde später oben, wo sich vor uns ein tolles Panorama entfaltet. Bei heute guter Sicht und Sonnenschein, breiten sich viele kleine Inseln mit spitzen, bewaldeten Bergen vor uns aus. Fischerboote sind unterwegs, um die kilometerlangen Strukturen zu versorgen, die der Fischzucht dienen. An den Stränden herrscht Ebbe, viele Frauen waten durch den Schlamm, oder bearbeiten die dick mit Austern bedeckten Felsen mit Hämmern, so gehen sie ihrer täglichen Arbeit nach. Aber auch die Schattenseiten sind von hier oben gut sichtbar: Zwischen den Häusern befinden sich Autowracks, Felsspalten und einige Buchten sind mit Müll angefüllt. Die Müllabfuhr scheint hier schlecht oder gar nicht zu funktionieren. In einer weiteren Bucht schimmert das Wasser bunt - ob dies die Folge eines kürzlichen Unfalls oder allgemeine Nachlässigkeit ist, vermag ich nicht zu sagen - es scheint jedenfalls niemanden zu kümmern. Allgemein bietet sich auf den Inseln das gleiche Bild wie in den Städten - auch hier finden sich die Müllhaufen jeweils auf jedem freien Platz hinter den Häusern - auch in den Häusern selbst nimmt es der Koreaner oft nicht so genau mit Ordnung und Sauberkeit. Gemütlichkeit will bei mir in den oft leeren Zimmern -
zugig überdies, weil ständig alle Türen offenstehen, auch nicht aufkommen. Jedoch gibt es auch hier solche und solche - dennoch wird vieles nicht so genau genommen, der Straßenverkehr etwa: Regeln, so meint man, scheint es hier nicht zu geben. Es wird gehupt und gedrängelt, Rote Ampeln werden oft ignoriert und auf die weißen Streifen der Fußgängerüberwege, sollte man niemals vertrauen. Überdies gibt es nicht überall Fußwege, sodaß man ständig auf der Hut sein muß. Überall laufende Motoren bei parkenden Autos, sorgen zudem für dicke Luft. All dies findet sich auch auf den Inseln in abgeschwächter Form. Als Verkehrsmittel dienen hier Motorräder mit hinten angebauten Kästen, wie man sie zuhauf auch in China findet. Läuft man aber ein wenig weg von den scheinbar willkürlich hingewürfelten Häuschen, finden sich tatsächlich noch einige ruhige Oasen, ohne den ohrenbetäubenden Stadt- und Maschinenlärm, der alles zu durchdringen scheint.
Hier oben ist tatsächlich nur der Wind zu hören, Inseln und das Meer, der pazifische Ozean, und irgendwo in der Ferne, an einem anderen Ufer liegt China - gar nicht so weit weg in Kultur und Kilometern, wie mir scheint.
Jin Mi und ich steigen hinab. In der Ferne brennt ein Feuer, schon seit gestern. Dem Geruch nach ist es Gummi, ich tippe mal auf verbrannte Autoreifen. Wir müssen aber durch diesen Rauch, wenn wir noch die andere Seite der Insel erkunden wollen. Am Strand, bei Ebbe, haben sich viele Leute mit Spaten eingefunden, die nach den begehrten Meeresfrüchten graben - Touristen, sagt Jin Mi. Es gibt wohl nichts Schöneres für den Koreaner, mit Leidenschaft nach Eßbarem zu suchen. Ein älterer Mann gräbt meterweit den Sand um, nach besonderen Muscheln, die, es gibt keinen anderen Vergleich, wie Hundepenisse aussehen. Aus dem Sand schauen die weißen Atemröhren der Tiere, die auf die Flut warten. Der Jäger streut nun in das Loch, aus dem die Röhren schauen, etwas Salz, worauf die Muscheln sofort aus der Tiefe herausschießen. Mit einem schnellen Griff zieht der Jäger die Muschel aus dem Sand, bevor diese in sekundenschnelle zurückschießen, so als hätten sie den Jäger erspäht und wollen sich in Sicherheit bringen. Das sonderbare Tier wird dann als Spezialität gehandelt und schmeckt sicher nicht anders als meiner Meinung nach die meisten Meeresfrüchte: relativ neutral, angenehm und selbst für meine nicht immer perfekte Verdauung sehr bekömmlich.
Nach ausgedehnter Wanderung kehren wir ins nächste Restaurant auf eine Nudelsuppe mit Muscheln ein, aus dem eine Frau ruft: "Hier gibt es den frischsten und besten Fisch!"
In der Pension angekommen, finden wir diese leer, wir lassen den Schlüssel an der Tür stecken und machen uns auf den Weg zum Hafen.
Als wir die Rückfahrkarte lösen (10.000 Won), erfahren wir, daß die Fähre bereits in zehn Minuten in See sticht - eine Stunde früher als erwartet. Also keine Zeit verlieren, eine Tablette schlucken und los gehts. Die See ist heute erstaunlich ruhig, und nach knapp einer Stunde kleinerer Inseln und Gegenverkehr in Form einer Fähre, kommen schon die Docks und Kräne des Hafens von Gun San in Sicht.
Am Ufer erwarten uns bereits Jong Og und Ugen, die uns zum Abendessen einladen.
Seit langem gibt es einmal wieder chinesisches Essen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die koreanische und die chinesischen Küche doch ist, obwohl doch Korea geographisch an China dranhängt. Koreanisch: sehr scharf, viel Rohes, der Fisch oder das Fleisch nur kurz gebraten, und wo immer man ißt, gibt es dazu den obligatorischen Kimchi, jenen scharfen Salat aus Chinakohl, Rettich, Paprika, Knoblauch, Fischsoße und Ingwer,
der dessen Herstellung unserem Sauerkraut ähnelt. In Korea ist dies das Nationalgericht, was nirgends fehlen darf, und was man nach einer reichlichen Eingewöhnungsphase nicht mehr missen möchte.
Wir verabschieden uns von unseren Gastgebern, mit dem Wunsch, diese auch einmal in Deutschland bei Bier und Bratwurst, begrüßen zu können. Ein Blick auf die Datumsanzeige meiner Uhr sagt mir, daß sich die Abschiedsszenarien jetzt häufen werden, denn bereits in drei Tagen bringt uns eine Maschine zurück in den verschneiten deutschen November.


11. November 2006 - Herbstlaub

Wir packen unsere Koffer, wiegen sie und stellen fest, daß wir noch vieles hätten mitnehmen wollen - Dinge, die wir wohl vermissen werden oder über die die Daheimgebliebenen staunen würden.
Mein Schwager nimmt mich mit zu einer Hochzeit in einer Kirche. Es ist die größte in Iksan, eine jener modernen Bauten, die oft nur durch ihre riesigen, nachts leuchtenden und weithin sichtbaren Kreuze und Jesusfiguren, als solche auszumachen sind. Nach einem schnellen Essen in einem Nebengebäude der Kirche, an dem sämtliche Angehörige und Freunde des Hochzeitspaares teilnehmen, betreten wir den großen Sakralbau - ich noch mit einem Kaffeebecher in der Hand. Da noch ein wenig Zeit ist, wird noch ein bißchen Werbung für das Brautpaar gemacht. Dazu fährt oberhalb eines überdimensionalen Kreuzes eine Leinwand aus, auf der nun das Brautpaar auf romantischen Bildern bewundert werden kann, so als hätte die Hochzeit schon stattgefunden. Ein weißer Teppich wird ausgerollt und endlich wird das Brautpaar hereingeführt. Die beiden stehen jetzt mit dem Rücken zum Publikum, dem Priester gegenüber, der aus voller Kehle ein Lied singt, das die Verstärkeranlage ein ums andere Mal zum Übersteuern bringt. Das Lied endet mit "Amen" - den Rest der eindringlichen Worte, die der Mann Gottes nun sehr emotionell predigt, verstehe ich nicht. Dann dürfen sich die beiden frisch verheirateten umarmen, der Bräutigam kniet vor dem Publikum nieder. Dann, nach einem weiteren laut gesungenen Lied, darf das neue Paar das Gotteshaus verlassen. Eine Pianistin und eine Geigerin umrahmen das Programm. Viele tragen weiße Handschuhe, wie Braut, Bräutigam und Priester. Es herrscht eine würdige Stimmung, die meiner Meinung nach aber durch das Klingeln einiger Telefone - auch das des Priesters, gestört wird. Dieser entschuldigt sich, schaltet das Gerät ab, und nach einem Scherz fährt er mit seiner Predigt fort.
Die blinkenden, mit unerträglich nervenden und schlecht klingenden Melodien ausgestatteten kleinen Spielzeuge haben längst der Welt die Kommunikation geraubt, anstatt sie zu fördern, denn ein Jeder ist ständig damit beschäftigt, darauf herumzutippen - Zeit, die doch auch für eine Unterhaltung mit seinen Mitmenschen genutzt werden könnte….

Am Nachmittag fahren der Schwager, seine Frau und ich hinaus in den Sonnenschein, bei angenehmen Temperaturen. Am Rande der Stadt erhebt sich einer dieser spitzen, jetzt mit buntem Herbstlaub geschmückten Berge. Dieser mißt etwa 500 Meter und es sind viele Treppen. Ich schwitze und kann kaum noch mit meinem 10 Jahre älteren Schwager Schritt halten, als endlich die Treppen einer kleinen Tempelanlage weichen. Ich befeuchte meine Stirn mit dem Wasser des stets dazugehörigen Brunnens - wage es aber nicht zu trinken, wegen des gefürchteten Touristendurchfalls, von dem ich bis jetzt verschont blieb - so muß ich nur oft an Durst leiden. Der Koreaner scheint seinen Wasserhaushalt vornehmlich durch Obst zu decken, was mein Schwager zu meiner Rettung glücklicherweise dabei hat.
Das Obst schmeckt hier durch das Vorhandensein von reichlich Sonne, völlig anders: saftiger, fruchtiger und besser - kaum zu vergleichen mit dem, was uns in den Supermärkten als Obst verkauft wird. Dafür macht die für das gute Obst verantwortliche Sonne Probleme: Auch hier wieder finden sich viele vermummte Menschen mit weißen Handschuhen.
Nach Verlassen der nach Räucherwerk duftenden Tempelanlagen, machen wir uns auf den Rückweg - zu Ungunsten meiner nicht für Extrembelastung ausgelegten Knie. Der Gipfel allerdings hätte mir noch zahlreiche weitere Treppen beschert. Vereinzelte Hügelgräber zieren wieder die Wege, ehemals reiche Leute wohl, die zu Lebzeiten sich die besten Plätze erkauft haben. Man sagt, daß das Quellwasser neben einem Grab oder das Obst eines nahen Baumes, besonders wertvoll zum Verzehr sei - für uns eine reichlich makabere Vorstellung, für den Koreaner aber nicht, gehören doch für ihn Häuser, Gärten, Felder und eben Gräber untrennbar zusammen.
Beim Abstieg bekommen wir Bonbons geschenkt - ich frage mit Hilfe meines bruchstückhaften Englischs, ob das zum Service gehört, worauf mir der Schwager erklärt, daß das der Service der Kirche sei. Auf dem Weg nach unten begegnen mir mehrere mannshohe Spiegel, die an Bäumen befestigt sind. Zuerst mutmaße ich, daß der Koreaner wohl auch auf dem Waldweg auf sein korrektes Äußeres bedacht ist - bis ich auf eine englische Übersetzung der oberhalb der Spiegel angebrachten koreanischen Schriftzeichen zurückgreifen kann. Ich übersetze sinngemäß: "Werde reich!".


12. November 2006 - Abschiede

Die 2-tägige Abreise hat begonnen. Natürlich hat sich so einiges an Gepäck angesammelt, was wir noch einmal wiegen. Die Höchstlast wird nur knapp unterschritten. Der Schwager holt uns mit seinem Jeep ab und wir versammeln uns wie allmorgendlich bei der Schwiegermutter. Die Schwester des Schwiegervaters kommt und schenkt meiner Frau 300.000 Won. Viele Eßsachen werden noch zusammengetragen, während ich noch mal mit der Nichte spiele, sie war oft der einzige Zeitvertreib während der langen Wartezeiten, in denen ich einmal nicht an dem vorliegenden Reisetagebuch schrieb, während die Anderen redeten. Dann wird zum Aufbruch geblasen. Es gibt keine großen Abschiedsszenen, nur kurze Verbeugungen und Händeschütteln bei den Männern. Auch hier zeigen die Koreaner nicht ihre Gefühle, sie verabschieden sich zügig, sodaß keine Zeit mehr für Dankesworte bleibt. Nur die kleine Nichte weint und klammert sich an mich - nach langen Umarmungen reißen wir uns los. Bei mir durfte sie Kind sein, auch ohne Worte. Auch mir fällt der Abschied schwer, und ich muß an meine sonst so unterkühlte Beziehung zu Kindern denken. Sogar einen ihrer wertvollen Milchzähne hat sie mir zum Zeichen der Freundschaft geschenkt.
Das Nichtverstehen der Sprache hat manchmal auch Vorteile: man sieht sich gezwungen, mehr auf die Gestik und das Gefühl der Menschen zu achten, soweit sie diese zu zeigen bereit sind. Ich glaube nicht, daß ich die Kleine noch mal so, wie sie jetzt ist, wiedertreffe. In ein oder zwei Jahren wird sie nicht nur größer (sie ist für ihre 7 Jahre sehr groß), sondern auch schon ins Erwachsenenleben gedrängt worden sein, denn die Kindheit des Koreaners ist kurz. Schon sehr früh wird er gezwungen, den harten Überlebenskampf der Erwachsenen zu kämpfen.
Zwei fehlen bei der sonst nüchternen Abschiedsszene: mein jüngerer Schwager,
der arbeiten gegangen ist und mein Schwiegervater, dem seine toten Verwandten offensichtlich wichtiger sind, da er gerade für den Bau eines Hauses für die Ahnen unterwegs ist, den er unterstützt. Sein konfuzianischer Glaube mit der umfangreichen Ahnenverehrung ist ihm das Wichtigste im Leben - so ist er eben. Sonst geht er mit seinen 77 Jahren noch einem Bürojob nach. Unsere Kommunikation beschränkte sich während meines Besuchs hauptsächlich auf das Grüßen und die Geste des hochgestreckten Daumens, was sagen soll: "Du bist der Beste!"
Die erste Etappe der Rückreise nehmen uns mein Neffe, der Sohn meiner Schwägerin und seine zukünftige Frau mit. Von Iksan bis Inchon sind es 200 km, die wir in fünf Stunden auf der Autobahn bewältigen. Es ist Sonntag, und wie immer um diese Zeit Stau auf der Autobahn. Die Koreaner nehmen es gelassen und gehen derweil ihrer Lieblingsbeschäftigung nach - dem Essen. Ein Rastplatz voller Menschen, mit unzähligen Verkaufsständen, die zum Verweilen einladen. Nach einem Kassenhäuschen, an dem für die 200 km 10.000 Won zu entrichten sind, geht es zäh weiter bis Inchon. Unterwegs erhebt sich herbstlich gefärbter, bergiger Wald zu beiden Seiten der Autobahn. Jeder Berg weißt auf der der Sonne zugewandten Seite einen kahlen Fleck auf - wieder Gräber der Reichen. Auch hinter den Leitplanken wird der Platz für Grabhügel genutzt.
Endlich kommt die Nebenstadt von Seoul in Sicht. Es ist dunkel geworden und die allgegenwärtigen Lichterbatterien mit ihren Abertausenden Lämpchen beherrschen wieder das Bild. Riesige Neubaugebiete mit immer höher werdenden Häusern - so versucht man der rasch zunehmenden Wohnungsnot in den Städten zu begegnen. Derzeit ist dies ein beliebtes Thema in den Nachrichten. Immer weiter steigende Preise für diese heiß begehrten "Arbeiterschließfächer" machen es den Leuten, die immer zahlreicher das Land verlassen, um in die Stadt zu ziehen, nicht leichter. So wird das Stadtleben immer chaotischer und die Landbevölkerung - zumeist Alte und Kranke, verarmt. In den drei Wochen habe ich allein drei Leute kennengelernt, die auf der Suche nach mehr Ruhe und allgemein besseren Lebensbedingungen, das Land verlassen wollen. Diesen Zielen nachzujagen wird allerdings immer schwerer, da die erwähnten Probleme eben nicht nur nationaler Art sind, sondern globaler.
Angekommen - Essen und der anschließende Versuch, Ruhe zu finden.


13. November 2006 - Ein Fluß in Sibirien

Ein ausgiebiges Frühstück - der Koreaner macht hier keinen Unterschied zwischen den Tageszeiten - stets gibt es Reis, Kimchi, Fisch und all die anderen Sachen in den kleinen bunten Schälchen. Ein weiterer Abschied, diesmal von der Tochter unserer Gastgeber und ihrem Mann, die wir ganz zu Anfang kennengelernt haben, dann bringen uns unsere Gastgeber zum Flughafen, die zweite Etappe der langen Heimreise beginnt.

Mit der Boing 747 in 8.000 Metern Höhe. Heute gibt es viele Wolken auf unserem 10.000 Kilometer langen Flug über Peking, Ulan Bator, Sibirien, St. Petersburg, Amsterdam und München. Der Start war um 15.00 Uhr nach koreanischer Zeit. Um 20.00 Uhr, als die Sonne untergeht, überfliegen wir gerade einen sehr großen Fluß. Da wir vor gerade einer Stunde Ulan Bator überflogen, könnte mir der in Geographie Bewanderte sicher sagen, um welchen Fluß es sich hier handelt. Mit Hilfe des letzten Lichts des Tages, kann ich große Seen erkennen, deren Ränder mit Eis bedeckt sind. Etwas davon hat sich auch an den Rändern des Fensters gebildet - kein Wunder bei 40 - 60 Grad unter Null da draußen. Diesmal behindert die linke Tragfläche stark meine Sicht. Es ist laut, trotz der bis zum Anschlag reingedrückten Ohropax, und die Luft ist wiederum sehr trocken. Schlafen ist unmöglich, denn heute sind keine Plätze frei. Noch fünf Stunden Flug liegen vor uns. Das Licht geht an, und zur Abwechslung werden wieder Speisen und Getränke gereicht. Hunger stellt sich sofort ein. Das kleine Flugzeug, das die Landkarte auf dem Monitor überfliegt, zeigt an,
daß wir uns gerade über Sibirien befinden. Am Horizont bildet sich ein roter Streifen und auf der Erde sind vereinzelte Lichter zu erkennen. Leichte Turbolenzen, die Schwindel hervorrufen.
Noch drei Stunden Flug, das kleine Flugzeug auf der Landkarte zeigt jetzt unsere Position zwischen Moskau und St. Petersburg. Es beginnt bereits wieder hell zu werden. Nach ständigem Wechsel zwischen Hocken und Sitzen in allen möglichen Stellungen, macht sich trotzdem starke Unruhe in meinen Beinen breit, ich will aufstehen, laufen und die Beine strekken - aber es geht nicht, da dies ja in der Economy-Class nicht vorgesehen ist. Schrecklich, wenn man noch weiß, daß es im Oberdeck eine Buisness-Class gibt, die es ermöglicht, für 4.000 Euro im Liegen Platz zu nehmen. Die Frau, die außen sitzt, hat bessere Nerven als ich, sie schläft und ist nicht wach zu kriegen. Ich klettere über sie hinweg, um endlich rauszukommen und Runden zu laufen. Als ich nach längerer Stehpause zurückkomme, gibt es die nächste Malzeit. Es gibt kleine Flaschen mit Wein dazu, von denen ich bereits die dritte drinke, dazu eine Reisetablette, damit ich endlich ruhig sitzen kann, was dann auch gelingt. Eine Stunde vor der Landung geht zum zweiten Mal an diesem Tag die Sonne unter - eine interessante Erfahrung, die ich nie vergessen werde.
Landeanflug in Amsterdam. Ich bin froh, unten zu sein, meine Schleimhäute fühlen sich,
wie schon beim Hinflug, schrecklich an. Trotzdem gibt es drei Stunden später noch einen weiteren Flug. Wir können uns vor Müdigkeit nicht mehr halten, wir nutzen jede Gelegenheit zum Schlafen, den kurzen Flug bis nach München bekommen wir nur im Dämmerzustand mit.
München. Nach einem kurzen Anruf zu Hause erfahre ich, daß mein Cousin uns nicht mitnehmen kann - eine Extraschicht zwingt ihn, in München zu bleiben.


14. November 2006 - Wurzeln

Die folgenden Nächte sind unruhig, immer wieder schrecke ich auf und taste minutenlang im Dunkeln nach dem Lichtschalter. Als ich endlich das Licht anbekomme, rätsele ich weitere Minuten, wo ich bin. Das geht noch zwei Wochen lang so. Es scheint, als wären ein paar Wurzeln abgerissen und ich muß erst wieder Halt finden. Ein paar Tage Jetlag folgen -
aber die Heimat hat mich wieder.

In 10.000 Kilometern Entfernung warten neue Freunde - ungewiß, wann oder ob wir uns wiedersehen. Die Erinnerung an ein fernes Land aber ist nicht nur auf Papier festgehalten, sondern unauslöschlich in mir drin, um mein Leben zu bereichern.

Dornheim - Iksan, Iksan - Dornheim, 24. Oktober - 14. November 2006.

© Mario Höll, 12.2.2007



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Die Seuche des Erwachsenwerdens

Eine Anleitung gegen das Älterwerden

Seit längerer Zeit schon beschäftigte mich die Frage, warum sich die Menschen, das heißt, besonders diejenigen, die mir näher bekannt sind, so sehr verändern. Im Allgemeinen sollten in solch einem speziellen Falle sofort die Alarmglocken klingeln und die Erkenntnis sich einstellen, daß mit mir etwas nicht stimmen muß. Nach längerer Selbstprüfung kam ich schließlich zu folgender Erkenntnis: Ich behaupte hiermit, daß es sich bei den mir aufgefallenen Symptomen um eine Krankheit handelt, die schleichend und von den Betroffenen unbemerkt sich über Jahre hinweg langsam einstellt. Es handelt sich inzwischen um eine Seuche epidemischen Ausmaßes. Ich selbst konnte mich mit Hilfe der Anwendung einer von mir selbst aufgestellten Theorie vor der Krankheit bewahren, was in diesem Falle wohl für meine Theorie spricht.
Im Folgenden möchte ich einige Symptome schildern, die in den meisten Fällen mehr oder weniger stark auftreten können:
Ein wesentliches Merkmal ist der Verlust des gesunden Humors und des Lachens generell. Einem früher fröhlichen Menschen mit oft kindlichem Humor ist es nunmehr peinlich, sich in Gesellschaft von Nichtbetroffenen zu befinden, dadurch verringern sich soziale Kontakte, Freundschaften werden vernachlässigt und verkümmern sogar. Die Gesprächsthemen drehen sich nurmehr fast ausschließlich um wirtschaftliche und soziale Belange, und der Kranke beginnt (was vorher absolut nicht der Fall war), sich sogar für Politik zu interessieren. Auch sein Tun selbst hat sich stark verändert. Während er früher, vor Lebenslust überströmend, viele Unternehmungen machte und gar kreativ sich betätigte,
ist er heute stark "vernünftig" geworden, wie er selbst es bezeichnet. Sein Tun bezieht sich fast ausschließlich auf "wichtige" Dinge des täglichen Broterwerbs, seine Arbeit hat sein ganzes Leben eingenommen und vollends von ihm Besitz ergriffen.
Um die Sache nun anzugehen, bedarf es hauptsächlich Wachsamkeit und Disziplin. Da ich im Laufe der Zeit gelernt habe, die Menschen zu beobachten, ging für mich schnell daraus hervor, daß man viel Kraft aufwenden muß um die Seuche zu unterbinden. Zunächst ist es wichtig auf den Humor zu achten. Man sollte stets bemüht sein in den Dingen, mit denen man sich beschäftigt, humorvolle Elemente auszumachen und sich auch nicht scheuen,
über die Fehler anderer zu lachen. Letzteres wird einem wohl den Haß von Seiten der bereits Infizierten einhandeln, doch das sollte einem bestärken, daß man sich auf dem richtigen Weg befindet.
Der Verlust des natürlichen Humors ist das Grundübel der Seuche. Das Symptom befällt vor allem höhergestellte Persönlichkeiten in führenden Rollen. Man beobachte einmal, mit welcher Ernsthaftigkeit insbesondere Politiker ihre banalen und verlogenen Theorien unter die Menschen zu streuen versuchen. Sie stehen oft stundenlang und fabrizieren ellenlange Sätze mit beeindruckend wenig Inhalt, ohne dabei über sich selbst zu lachen. Da braucht man sich nicht zu wundern, daß sie in ihrer Ernsthaftigkeit die ohnehin schon Leidgeplagte Menschheit mit noch mehr Steuern und Bürokratie quälen und gar Kriege anzetteln,
an denen sich dann Scharen von Infizierten beteiligen, anstatt zu Hause zu bleiben und über so viel hohles Gerede zu lachen.
Ich denke, man kann an diesem Beispiel klar und deutlich erkennen, daß das "sich selbst zu ernst nehmen" ein weiteres Grundübel der Seuche ist, von dem, ich möchte sagen,
die ganze Welt schon befallen ist, nimmt man einmal allseits bekannte Ursachen heraus. Typisch für Geisteskrankheiten ist das nicht Erkennen des eigenen Problems, wodurch sich auch diese Volksseuche auszeichnet. Nur wer insichkehrt und an sich arbeitet, mag die typischen Symptome erkennen und Schritte einleiten, die auf den Weg zur Genesung führen. In der Tat ist der Kampf um die Genesung und auch der Vorbeugung, mit dem der Gesunderhaltung des Glaubens zu vergleichen, wovon in der Bibel viele Beispiele niedergeschrieben sind. Auch in unserem Falle lebt der Mensch nicht vom Brot allein, sondern er muß sich auch in geistiger Hinsicht ernähren, um nicht im Glauben zu scheitern, wie um nicht der Seuche anheimzufallen.
Im Folgenden werde ich meine Studien darlegen, mögen sie demjenigen, der sich Gesunderhalten will Beispiel und Anregung im Kampf gegen dieses Übel sein.
Neben der Reinerhaltung des Humors ist es ebenso wichtig, sich ein gesundes Maß an Selbstzweifel zu erhalten, denn nur wer sich selbst kritisch beurteilen kann, entgeht der großen Gefahr, sich selbst zu ernst zu nehmen. Aus diesem Grund bewegen sich alle, die sich in gehobener Stellung zu befinden glauben, auf gefährlichem Boden.
Daß der Mensch generell nicht in der Lage ist über den Menschen zu herrschen, zeigt sich bei genauer Beobachtung nicht nur in Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte, sondern auch bereits in kleinen Dingen. Selbst die Ernennung zum Klassensprecher birgt schon die Gefahr in sich, durch die Annahme eines Titels sich Schaden zuzufügen. Die Erfahrung zeigt nämlich ganz deutlich, daß schon allein durch diesen Umstand eine Veränderung am Geiste bewirkt wird. Ein gesunder und wachsamer Mensch wird sich also davor hüten, sich als wichtig anzusehen, er wird sich vielmehr selbstkritisch betrachten und dadurch in den meisten Fällen die Überflüssigkeit des jeweiligen Unterfangens erkennen.
Am Beispiel der Überbeamtung in allen Lebensbereichen läßt sich ebenfalls deutlich herauslesen, daß sich hinter dem überwiegenden Anteil der "Pöstchen" bemitleidenswerte Individuen verbergen, die sich allein durch das tragen eines Titels an ihrem krankhaften Ehrgeiz laben, ohne auch nur die leisesten Symptome der verzehrenden Seuche an sich zu bemerken. Daher ist es unerläßlich, diesem Problem mit Witz und einer Portion Zynismus entgegenzutreten, mitunter kann man damit einen noch nicht völlig verbohrten und vergeistigten Kranken einen Schimmer Hoffnung geben bzw. diesen überhaupt erst einmal aus seinem Schlummer aufschütteln.
Überhaupt ist es stets sinnvoll dieses System der Dinge als kritisch zu betrachten, denn die verlangte Ernsthaftigkeit produziert ganz automatisch sehr schnell, sehr viele willenlose Sklaven, die in ihrer chronischen Existenzangst in eine fast ausweglose Trance fallen,
aus der sie nur schwer zu entrütteln sind. Um dem entgegenzuwirken ist es notwendig, sich intensiv mit einer extrem unwirtschaftlichen, also entgegen dem Materialismus stehenden Tätigkeit zu beschäftigen, am besten also mit Kunst in seiner schöpferischen Form. Das schafft, sofern nicht der Anreiz des Geldes lockt, die nötige Distanz zum System und erweckt und erhält die kindlichen und kreativen Vitamine im Kampf gegen die Seuche. Dafür muß man sich ganz bewußt Zeit nehmen, nicht warten, bis sie einem vielleicht gegeben werde. Dazu gehört sicherlich auch eine Portion Egoismus, denn die Überzahl der Infizierten wird natürlich keinerlei Verständnis für unsere "sinnlose Zeitvergeudung" aufbringen. Daraus ergibt sich, daß der Mensch sich darüber im Klaren sein muß, was er in seinem Leben eigentlich tut. Ein Lebenssinn muß also bereits vorhanden sein, der dem so modernen Nichtstun entgegengesetzt werden kann. In einer Zeit, die für sich beansprucht, mit ihrem suchterzeugenden Kaufreiz die Menschen zu betäuben und zu willenlosen Sklaven des Materialismus zu machen, ist es unerläßlich, sich soviel wie möglich Zeit zu erkämpfen. Es ist ein hohes Maß an Disziplin erforderlich, sich der Massenverblödung durch die Medien zu entziehen, und sich wann immer möglich, täglich mit seinem gefundenen Lebenssinn zu beschäftigen, so man bereits in dieser glücklichen Lage ist. Sicherlich wird man dabei auf eine geballte Ladung Widerstand stoßen. Das System läßt ja kaum Freiraum zwischen zermürbendem Broterwerb, Sinnentleerender Werbeberieslung und den daraus resultierenden künstlich erweckten Wünschen, alles Mögliche brauchen zu müssen.
Hat man dies nicht erkannt und lebensnotwendige Schritte eingeleitet, ist die Gefahr zu erkranken kaum mehr abzuwenden. Denn ebenso wie das Altern ist auch das Erwachsenwerden eine degenerative Erkrankung, die anfangs unmerklich aber stetig voranschreitet. Sind die äußerlichen Merkmale bereits ausgebildet, sind die Betroffenen auch schon vollends infiziert und der körperliche und geistige Verfall hat bereits Schäden angerichtet.
Eine interessante Beobachtung ist, daß vor allem körperlich gesunde, junge Menschen besonders stark befallen zu sein scheinen. Dies ist folgendermaßen zu erklären: Gerade diese Personengruppe ist es ja, die vom System stark gefördert wird und die somit den Grundstock der Gesellschaft bildet. Demzufolge sind diese auch hoch integriert und durch den besten und materialistisch günstigsten Broterwerb versorgt. Nunmehr verbleibt dadurch für sie fast keinerlei Zeit mehr, überhaupt sich des Nachdenkens zu ermächtigen.
Der Schwächliche, Kränkliche aber ist dauerhaft gezwungen sich auch nur die kleinsten Schritte bitter zu erkämpfen. Durch diese Umstände wird eine Generation von geistig verkümmerten, geldgesteuerten Marionetten herangezüchtet, in der kein Platz mehr für Individualität und Selbstzweck eines Einzelnen vorherrscht. Der Kränkliche wird dadurch gezwungen, eine Existenz als Außenseiter zu führen, was ihn zwar sozial ausgrenzt,
ihm aber im Kampf gegen die Seuche förderlich ist. Er ist nämlich gezwungen, sein kreatives Denken zu gebrauchen, um überhaupt zu bestehen. Humor ist für ihn überlebenswichtig und er muß ihn somit zu seiner existentiellen Eigenschaft entwickeln.
Nur durch unermüdliche Disziplin kann der Kampf gegen die Seuche des Erwachsenwerdens aufgenommen und gewonnen werden, dessen sollte man sich stets bewußt sein, in einer Zeit, in der wirkliche Werte rar und die Dummheit zur Staatsreligion erhoben wird.
Jeder, der des Denkens noch mächtig ist, sollte es als seine Pflicht ansehen, gegen das Erwachsenwerden anzugehen!

© Mario Höll, 15.1.2004


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Die Auferstehung

Eine Geschichte aus dem Paradies

Ich muß lange geschlafen haben, denn ich kann mich nicht erinnern, auf dieser Wiese, mitten in der Natur eingeschlafen zu sein. Der Ort kommt mir gänzlich unbekannt vor,
doch ich bleibe noch liegen und überlege, wie ich hierher komme. Durch den tiefen Schlaf, der mich ereilt hat, muß ich wohl die Orientierung verloren haben. Nach einer Weile jedoch schrecke ich hoch, ich erkenne noch immer die Umgebung nicht; mehr noch, die Kleidung, die ich trage, kommt mir ebenfalls unbekannt vor.
Man muß mich offenbar gegen meinen Willen hierher gebracht haben, mutmaße ich.
Jemand muß mir ein kartiertes Hemd und eine braune Manchesterhose angezogen haben, um meinen Hals eine Krawatte gebunden, und mein Haar ist peinlich genau seitlich gescheitelt. Überhaupt scheint mein Äußeres seltsam verändert worden zu sein, ich fühle, daß sich meine Haut anders als sonst anfühlt.
Endlich stehe ich auf, um den Ort zu erkunden, und um die seltsamen Geschehnisse,
die mit mir passiert sind, aufzuklären.
In einiger Entfernung, in einem Tal, das direkt vor mir liegt, kann ich einige vereinzelte Gebäude erkennen, ich löse die Krawatte und beschließe, mich unauffällig eines der Gebäude zu nähern.
Rechts und links von der Anhöhe, auf der ich erwacht bin, erstreckt sich dichter Wald bis hinunter in das Tal, ich benutze ihn als Deckung, und komme so dem ersten Gebäude näher. Angelockt von vielen Stimmen, ausgelassen diskutierender Arbeiter, die damit beschäftigt sind, das Dach eines der nebenstehenden Gebäude zu errichten, verstecke ich mich hinter einem Busch, denn ich traue der ganzen Situation nicht.
Als erstes fällt mir auf, daß die Arbeiter auf dem Dach die gleiche Kleidung und Haartracht tragen, die man auch mir angelegt hat.
Nach einer Weile öffnet sich die Tür eines der gegenüberliegenden Gebäude, und eine Frau erscheint. Sie trägt einen großen Korb mit ungewöhnlich rot leuchtenden Äpfeln, die mir wohl deshalb so auffallen, weil sie so makellos und gleichmäßig aussehen. Die Lippen der Frau sind so krell rot wie die Äpfel geschminkt, und sie trägt schulterlanges gelocktes Haar, eine weiße Bluse und einen bunten, wadenlangen Rock.
Die Arbeiter auf dem Dach halten inne, denn jedem von ihnen reicht die Frau einen der roten Äpfel.
Als ich meinen Blick weiter in dieser Szene schweifen lasse, dringt er in eine Ecke vor,
die zuvor durch den Blickwinkel zwischen mir und dem, was ich jetzt erspähe, verdeckt war. Auf einer kleinen Wiese vor eines der Gebäude sitzt ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren, das zu meinem großen Erstaunen einen rießigen Löwen streichelt. Erschrocken überlege ich, ob ich das Kind vor dem Untier warnen sollte, oder ob es geling, das Tier wegzulocken. Dann fällt mir ein, daß das Tier wohl zu einem Zirkus gehören könnte, und es sich somit um ein gezähmtes Exemplar handeln muß.
Als ich jedoch weiter aus meinem Versteck hervorkrieche, um mehr zu sehen, fällt mir auf, daß unmittelbar neben dem Löwen ein kleines Lamm friedlich schläft. Die Situation erscheint mir jetzt immer seltsamer und verworrener, und gerade als ich mein Versteck unauffällig verlassen will, werde ich in einem unachtsamen Moment entdeckt. Es ist die Frau, mit den roten Äpfeln, ich hatte sie, abgelenkt von der Tierszene, einen Moment aus den Augen verloren.
Sie kommt auf mich zu und ruft laut: "Bruder!" Erschrocken drehe ich mich um, da ich ihren Bruder hinter mir vermute, doch da ist niemand. Sie scheint also mich zu meinen. Als ich einlenken will, daß es sich hierbei wohl um eine Verwechslung handeln müsse, sagt sie wieder: "Bruder!, Bruder!; Wir haben dich schon erwartet!" Völlig verwirrt gehe ich mit ihr. Sie geleitet mich zu einem der Gebäude. Es ist ein großer, schlicht gebauter Saal mit vielen Stühlen und einer kleinen Bühne mit einem Rednerpult. Es empfängt mich ein Mann, in für diesen Ort gewohnter Kleidung und Haartracht, eben jene, die man an jeder Person in dieser sonderbaren Szene sieht. Nur fällt mir an dem Mann ein dunkler Anzug auf, bei dem nur der oberste Knopf geschlossen ist.
Mir fällt schwer, das genaue Alter des Mannes zu schätzen, was wohl durch sein makelloses Gesicht verursacht wird. Er entläßt die Frau mit den Worten: "Danke Schwester!"
Ich gewinne den Eindruck, daß ich es hier wohl mit einer sehr großen Familie zu tun habe, oder etwa mit einem religiösen Orden, doch dazu paßt meiner Meinung nach das ganze Ambiente nicht, das mich umgibt. Bereitwillig gebe ich der Aufforderung statt, mich zu dem Mann zu setzen, endlich will ich Klarheit in dieser mysteriösen Sache, in die ich hier geraten bin, ebenso der Leser, der mir allerdings nur schwer den Ausgang der Geschichte glauben wird.
Tatsache ist jedoch, daß es sich bei dem Mann vor mir um meinen Urgroßvater (mütterlicherseits), und bei der Frau, die mich entdeckt hat, um eine seiner Nichten handelt.
Der mysteriöse Ort, an dem ich mich befinde, ist nichts anderes, als das sogenannte Paradies. Ich war also tot, und bin auferstanden; es gibt also einen Gott, und ich werde ab jetzt ewig leben, sagt man mir.
Im Laufe der Zeit wird mir vieles klarer, ich beginne mich zu erinnern wer ich einst war, doch die Vergangenheit scheint unendlich entfernt. Alles ist so fremd, die Menschen, die Umgebung, sogar ich selbst. Doch ich lerne das Gestern und das Heute zu trennen, ich bin hier und nur das zählt. Dabeisein ist schließlich alles.


© Mario Höll, 6.2.2000


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Vom Wesen der Gewalt

1. Definition:

Gewalt ist die Ausübung von Macht gegen den Nächsten, um ihm den eigenen Willen aufzuzwingen bzw. um anderweitigen Schaden zuzufügen.

2. Erscheinungsformen:

Neben dem Zufügen von Schaden in Form von physischer Gewalt ist auch die psychische Manipulation, verbal oder durch multimediale Techniken, als Gewalt zu bezeichnen, sofern sie dem Nächsten bewußt Schaden hinzufügt.

3. Ursprung:

Hauptgrund der Entstehung von Gewalt ist die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu seinem Wohle zu regieren. Was zunächst vermessen klingt, läßt sich mit einem Blick auf die Geschichte leicht beweisen. Grundlegend kann dabei ein und derselbe Werdegang, in zwar variierter Form, prinzipiell jedoch immer gleich, erkannt werden:
Neben den an anderer Stelle zu diskutierenden äußeren Einflüssen, führen Gier, Neid und Selbstsucht dazu, Schwächere oder wenig Dominantere zu unterdrücken. Dies geschieht aus den genannten Beweggründen heraus zunächst in unblutiger Weise durch das erlassen von selbstsüchtigen Gesetzen, durch überhöhte Steuern, Sanktionen, Freiheitsberaubung, Psychoterror und verschiedenste Regierungsformen zum Nachteil des Menschen.
Wenn diese "sanften" Methoden vollständig ausgenutzt sind, folgt, um nun doch weiter zum Ziel zu kommen, die blutige Methode in Form von Körperverletzung bis hin zum Mord. Diese Taten, obwohl eigentlich von jedermann als ungerecht empfundene Machenschaften, erzeugen als Gegenreaktion wiederum Haß und Gewalt von Seiten der Unterdrückten -
ein Teufelskreis entsteht.

4. Tendenz:

In den sogenannten "zivilisierten Staaten" ist neben den gewöhnlichen kriegerischen Handlungen gegen schwächere Staaten eine Tendenz hin zu mehr psychischer Gewalt erkennbar. Diese "sauberere" Form der Gewalt erfordert kaum noch blutige Schlachten,
der gewünschte Effekt läßt sich durch ein gut organisiertes Netz von Beamtentum, multimedialer Manipulation und Verdummung des Volkes, Abhängigkeit durch Materialismus und die Zerstörung der Sprache und Kultur, erreichen. Auf Menschen, die über eine geringe Bildung verfügen, die uneins und zerstritten, durch Reizüberflutung abgelenkt und gestreßt und zudem noch durch vergiftete Nahrung und Drogen zu unwissenden Sklaven dieser Diktatur gemacht werden, läßt sich leicht Macht in Form von psychischer Gewalt anwenden. Diese so mürbe gemachte Gesellschaft - die längst keine mehr ist - deren kleinste Zelle, die Familie, krank ist, wird natürlich wieder als scheinbar einziger Ausweg wieder mit Gewalt, der einzigen Reaktion, an die sie noch glaubt, antworten. Am Ende kommt es zur Eskalation, wie wiederum die Geschichte eindeutig beweist - die Diktatur wird gestürzt und das Ringen um die Gerechtigkeit beginnt von neuem.
Da jetzt diejenigen die Führung übernehmen, die sich aufgrund ihrer rhetorischen Fähigkeiten als scheinbar geeignet erweisen, entsteht durch falschen Ehrgeiz, Geltungsbedürfnis und Selbstsucht, hervorgerufen durch jene dem Menschen eigene Unfähigkeit, sich selbst und zum Wohle aller zu regieren, eine neue Diktatur, die deutlich an der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, durch Zensur und Verbote, durch die Verbreitung von Lügen und der Manipulation der Massen - eine Form der psychischen Gewalt - erkennbar ist.
Interessant dabei ist, daß sich durch die selbsternannte "Zivilisation" und dem damit einhergehenden explosionsartigen technischen Fortschritt, keinerlei Besserung zeigt -
im Gegenteil - die aktuellen Kriege, das Versagen selbst der einfachsten sozialen Notwendigkeiten und der Anstieg von Gewalt, Unmoral und Perversion - Beschreibungen, die schon vor Tausenden Jahren inklusive der dazugehörigen Lösungsansätze in der Bibel aufgezeichnet, deuten darauf hin, daß sich die Lage noch deutlich verschlimmern wird.

5. Lösungsansätze:

Der Mensch wird erkennen müssen, daß er Leitung und Führung durch gerechte Grundsätze braucht!

Zum Überleben der Menschheit wichtige Grundwerte wie Demut, Selbstbeherrschung und vor allem Nächstenliebe müssen wieder vermittelt und vor allem angewandt werden.
Dies kann jeder nur für sich selbst tun, dazu muß der Wille, Erkenntnis in sich aufzunehmen, vorhanden sein und die Einsicht, daß dies unbedingt nötig ist. Infolgedessen wird kein Platz mehr für all die zuvor aufgezählten Unzulänglichkeiten aus jeder Richtung sein.
Das Verbot von Wissen und die Zensur sind nicht der richtige Weg. Erstens wird dabei nur das Ergebnis bzw. das Produkt einer geistigen Schöpfung verboten, während das Denken des Menschen dadurch nicht verändert wird. Zweitens behindert es die ernsthafte Suche nach wahrer und aufrichtiger Anleitung, die jeder an sich selbst vornehmen muß. Ein Zwang, egal aus welcher Richtung und egal in welche Richtung ist eine weitere Form von Gewalt und wird nur wieder Gegengewalt erzeugen.
Ein weiteres Problem ist auch der Fanatismus und die Humorlosigkeit, denn wer sich selbst zu ernst nimmt, läuft Gefahr, intolerant zu werden, und Intoleranz führt zu Parteilichkeiten und Arroganz - zwei Eigenschaften, die, wie wiederum die Vergangenheit und die Gegenwart beweisen, Spaltungen verursachen.
Weitere Ausführungen über schädliche Einflüsse wie Geldgier und Unehrlichkeit zum Nächsten, zu sich selbst und dem Verdrängen von deutlich sichtbaren und alarmierenden Hinweisen, Gleichgültigkeit, übertriebener Ehrgeiz, Selbstsucht und Unvernunft -
alles Eigenschaften, die Gewalt begünstigen, würde nicht nur weitere unbeachtete Bücher füllen, sie würden stets - die nötige Ehrlichkeit zu sich selbst - zu der Einsicht führen,
daß das Problem nur beim Einzelnen gelöst werden kann. So sollte jeder unverzüglich beginnen, die nötigen Änderungen an sich selbst vorzunehmen.

© Mario Höll, 6.5.2008


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Warum ist das so?

Ein Loblied auf die Neugier

Der Frühling ist da. Wenn das Wetter schön ist, zieht es uns sicher nach draußen. Nach einer arbeitsreichen Woche könnten wir vielleicht einmal einen Spaziergang durch die Natur unternehmen. Uns ist sicher dabei schon so manches Mal entgangen, daß wir uns in unserer hektischen Zeit schon selbst ermahnen müssen, innezuhalten und stehenzubleiben, um auch einmal die kleinen Dinge am Wegesrand wahrzunehmen -
eine einzelne Blume vielleicht, eine Blüte, einen Käfer, der unseren Weg kreuzt, ein Tautropfen auf einem Grashalm.
Nehmen wir uns doch einmal ein wenig Zeit und beobachten die Dinge etwas genauer.
Der Eine oder Andere wird feststellen, daß er das entweder noch nie so intensiv getan hat oder sich für Details bislang gar nicht interessierte. Derjenige, der es trotzdem tut, der wird mir sicher zustimmen, daß sich mit einem Mal unzählige Fragen aufwerfen. Einige der interessanteren Fragen könnten dabei lauten:

- Warum gibt es solch eine unglaubliche Vielfalt von Pflanzen, Tieren, Farben und Formen?
- Sind das alles Millionen Zufälle?
- Warum leben manche Tiere in einer Symbiose?
- Wie konnten die vorher alleine überleben?
- Warum tauchen im Mikro- und Makrokosmos immer dieselben Strukturen auf?
- Warum genau platzsparende 137,5 Grad und immer im "Goldenen Winkel"?
- Warum läßt sich das alles so mathematisch genau berechnen?
- Warum dehnt sich Wasser als einziges Element bei Kälte aus?
- Warum steigt das Eis im See nach oben?
- Warum laufen die Erde und die Planeten auf solch exakten Bahnen?
- Warum wäre bei 5 % Abweichung der Bahnen oder einer 1 % größeren Erde kein Leben mehr möglich?
- Wieso stabilisiert der Mond die Erdachse?
- Warum würde ohne Mond das Wetter unerträglich?
- Warum müssen wir mit ca. 80 Jahren sterben, wo wir doch gerade eben etwas schlauer geworden sind?
- Warum sind wir überhaupt so neugierig?

Zugegeben, auf einige dieser Fragen wären wir sicher bei unserer Wanderung gar nicht gekommen. Trotzdem fällt uns vielleicht daran auf, daß uns täglich in den Medien viele Dinge gezeigt werden, aber selten wird doch überhaupt gefragt: Warum ist das so? Zu oft bekommen wir doch nur die Antwort "Das ist eben so." Sollte uns das aber zufriedenstellen? Eigentlich sind wir doch sehr neugierig. Ein altes Buch behauptet sogar, der Sinn des Lebens bestünde darin, fortgesetzt Erkenntnis aufzunehmen.
Wie dem auch sei, wer Fragen stellt, regt zum Nachdenken an. Wir sollten nicht alles als gegeben hinnehmen - viele Dinge erscheinen nach näherer Betrachtung plötzlich in einem anderen Licht, hinterfragen wir, bekommen wir auch befriedigende Antworten.
Vielleicht schon beim nächsten Spaziergang.

© Mario Höll, 3.5.2010


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Südkorea hin - und zurück (?)

Ein Reisetagebuch, Teil II

25. Juni 2010 - Angst vor der Angst

Der Nonstopflug von Frankfurt aus soll angenehmer, kürzer und komfortabler als beim letzten Mal werden. Doch das trifft es nicht ganz: Unterhalb von Sankt Petersburg (jedenfalls sagt das einer der zahlreichen Monitore, die im Wechsel Temperatur, Flughöhe und Position anzeigen), gerät die Lufthansamaschine in starke Schwankungen, die mir trotz Beruhigungspillen den Schweiß in alle Poren treibt. Die anderen Passagiere scheint das nicht zu beunruhigen - auch den Koreaner rechts neben mir nicht.
Diese Angst ist mir fast schon peinlich - nicht, daß es wegen dem Tod wäre, über den ich sowieso zu oft nachdenke - nein, aber es muß eine Art Selbsterhaltungstrieb sein, etwas Animalisches, Unbekanntes in mir. Der Kapitän schließlich bringt Aufklärung, es handle sich um ein Gewitter, welches wir gerade durchfliegen. Das Schütteln ist es auch nicht, welches mich immer in Panik versetzt, es ist eher dieses Fallen, das Gefühl, den Halt zu verlieren und ins Bodenlose zu stürzen.
Dann wieder Ruhe. Im erwünschten Schlaf versuche ich mir vorzustellen, daß ich in einem Zug sitze. Wer jemals in der DDR in einem Schlafwagen der Deutschen Reichsbahn gereist ist, weiß, was ich meine. Nur wenig später über Sibirien, wieder dieses Schütteln und Fallen. Ich öffne die Sichtblende des für mich lebenswichtigen Fensters (jemand hatte es in meiner Abwesendheit geschlossen), um wenigstens den Horizont zu sehen. Die Tragfläche vor mir schwankt beachtlich und ich versuche mich zu beruhigen. Diese verfluchte Angst! Ich wünschte, ich hätte einige der "tausend Antennen", die mein Leid bewirken - und als einzigen Vorteil Berichte wie diesen hier erst ermöglichen - einfach "abbrechen" können, um vielleicht doch noch so zu leben, wie all die anderen normalen Menschen. Doch eine Stimme in mir sagt, daß dann andererseits ja nichts mehr von mir übrig bleiben würde.
Nach gehöriger Quälerei, weil ich den Koreaner neben mir nicht ständig wecken will durch meine Unruhe, gelingt es tatsächlich, dank außergewöhnlicher Schlafstellungen, mich für kurze Zeit aus der sonderbaren Realität einer fehlenden Nacht auszublenden.
Gegen Mittag Ortszeit, nach 10 Stunden Flug, sehe ich zum zweiten Male die Landepiste von Inchoen / Seoul. Nach etlichen Formalitäten im Flughafen besteigen wir den Bus nach Iksan, ehe uns der gefürchtete Jetlag für über vier weitere Stunden in Sphären jenseits
der Realität befördert.


26. Juni 2010 - Mottenpulver und Knoblauch

Im Gegensatz zu uns beiden scheinen meine Verwandten keinen Tag gealtert zu sein. Nur meine Magerkeit fällt Allen sofort auf. Nichts scheint sich in Korea verändert zu haben:
Die perfekte Ausnutzung des zum Verkauf geeigneten Platzes, die bunte Werbung auf ansonsten einheitlichem Hellgrau der Häuser und Straßen, der Knoblauchgeruch durchsetzt mit Mottenpulver im Hause der Schwiegereltern. Alles scheint mir nach vier Jahren noch so vertraut, als wäre keine Zeit vergangen. Veränderungen werden mir aber schnell nach dem ersten, notwendigen Einkauf bewußt. Da es nötig ist, so viele Geschenke wie nur möglich mitzunehmen, hatte ich wieder auf Rasierzeug und andere Utensilien verzichtet - was sich als Fehler erweißt, denn die Preise im "teuersten Land der Welt" (die Bezeichnung hatte ich kurz vor der Abreise aufgeschnappt), holen mich trotz Schlafmangel schnell in die bittere Realität zurück. Die Preise sind offensichtlich um das Doppelte gestiegen und 100 Euro sind schon für die Busfahrt und das Allernotwendigste weg. Aber der Jetlag blendet die neueste Facette meiner "Angst vor der Angst" für die nächsten 12 Stunden aus und alles taucht wieder in tiefes Schwarz.

27. Juni 2010 - "Sorge dich nicht um den nächsten Tag"

Die Begrüßung ist sehr herzlich, selbst Schwiegervater freut sich und umarmt mich. Kurz darauf nehmen wir Platz im Zimmerchen der Schwiegermutter. Ihr Fernseher ist größer geworden - er nimmt ja auch einen großen Teil ihrer Zeit in Anspruch. Gehen kann sie nur noch indem sie ihre Hände auf die Knie aufstützt, im Winkel von 90 Grad.
Meine innere Uhr spielt verrückt - eigentlich geht sie sehr genau - nach deutscher Zeit,
und das ist das Problem. Der Tag endet mit einem Spaziergang durch die Straßen von Iksan. Geld haben wir noch 3.000 Won - das reicht nicht mal für ein Bier. Der Gedanke "Sorge dich nicht um den nächsten Tag" hält mich bis um Fünf Uhr wach.


28. Juni 2010 - Das kafkaeske Leben

Nach fünf Stunden Schlaf ist es 10 Uhr - meine innere Uhr zeigt aber drei Uhr morgens -
so fühlt es sich auch an.
Man sieht, daß hier jahrelang niemand wohnte. Ungeachtet dessen beschäftigt mich ein anderes Phänomen schon lange Zeit: Wie schaffen es manche Menschen, wenn nicht vorsätzlich, Wände, Türen und Gebrauchsgegenstände so zu beschmutzen, um dann so zu tun, als würden sie das gar nicht bemerken? Hier scheint es sich um noch unerforschte menschliche Abgründe zu handeln.
Wir bekommen von Schwiegervater Geld. Ich hatte schon Rechnungen angestellt, wie lange das Trinkwasser reichen würde und geplant, welches abzukochen, da ich das Leitungswasser aus den allgegenwärtigen Wasserspendermaschinen trotz Beteuerungen, daß diese ungefährlich seien, nicht trinken mag.

In mir manifestierte sich das Gefühl , daß es mit der Wirtschaft im nächsten Jahr weiter bergab gehen würde und vielleicht sogar der Euro kaputt gemacht würde. Der Gedanke kommt sicher nicht von ungefähr - schließlich hat uns DDR-Bürgern der Staat schon zweimal das Geld halbiert, und das mit einer Mindestrente, trotz 40 Jahren harter Arbeit bzw. trotz Hartz IV mit durchschnittlich 300 Euro im Monat. Daß das nicht wieder aufzuholen ist,
kann sich sicher sogar jeder schwerst Dyskalkulie-Kranke an allen fünf Fingern pro Hand abzählen. Mit dem Verkauf von unnutzbarem Ackerland für einen Schnäpchenpreis plus den Ersparnissen von etlichen Jahren wurde der Hof gepflastert. Jetzt sitze ich in einem Obergemach eines Hauses mitten in Süd-Korea. Jeder, der schon einmal Franz Kafkas
"Das Schloß", "Der Prozeß" oder den ganz vorzüglichen und leider unvollendeten "Amerika-Roman" gelesen hat, weiß, was das Adjektiv "kafkaesk" bedeutet. Ja, wahrlich kafkaesk ist mein Leben fast immer gewesen. Es passierten Dinge, fast selbstverständlich wie in einem Traum, aber sie erschienen so ungeheuer real, so real, daß ein Aufwachen nicht möglich erscheint. Manches erschien zunächst auch sehr unwirklich, etwa die Heirat mit einer Koreanerin, das Auftauchen "neuer" Großeltern, die mir Abenteuer in Fernost ermöglichten; Achtungserfolge als Künstler, wie die Zusammenarbeit mit einem berühmten Produzenten, Auftritte auf großen Bühnen trotz starker Ängste, die Vertonung des Weltschmerzes mit der einzigen Reaktion betroffenen Schweigens, zwischendurch Krankheit.

Mein Schwiegervater kommt nach oben und will mich akupunktieren. Er hat ein kleines Kästchen voller winziger Nadeln und ein zerlesenes Büchlein dabei. Sehr zielgerichtet und routiniert setzt er zahlreiche Nadeln in meine Hände. Er schaltet den Fernseher ein, steckt mir zwei Ginsengbonbons in den Mund und heißt mich eine halbe Stunde warten. "Wahrscheinlich kann man nichts machen, da ich schon so schwach geboren wurde, aber er wird es trotzdem versuchen", übersetzt mein Frau. Eines ist mir schon lange sicher:
Wenn mir die asiatische Medizin nicht hilft - von der europäischen "Schulmedizin" erwarte ich nichts außer schneiden oder durch Chemie wegätzen. Das kann der Sinn der Sache nicht sein, denn alles deutet doch darauf hin, daß Körper und Geist eine Einheit bilden und folglich in der Gesamtheit behandelt werden müssen.

Wieder ist es Abend geworden. Eine FReunding hatte angerufen und auch die Nachbarn in der engen Straße wollen uns sehen. Ein halbes Dutzend ältere Frauen, unter ihnen auch Schwiegermutter, sitzen nebenan und reden über langes Haar, Krankheiten und dies und das. Ich verstehe ja nur wenige Worte, aber glaube trotzdem zu verstehen.

Um 21.30 Uhr kaufen wir für 30.000 Won ein. Viel ist nicht im Korb.


29. Juni 2010 - Der Gefangene im Obergemach

Ich versuche in das neue Zeitgefüge reinzukommen, viel Schlaf, ab tags oder nachts ist trotzdem noch dabei. Meine Frau ist fast nur unten bei der Mutter - hauptsächlich deshalb sind wir ja hier. Ich aber fühle mich schon wie ein Gefangener im Obergemach mit wenig Freigang im winzigen Hof. Aber das ist auch das normale koreanische Leben, schließlich spielt sich eigentlich alles in der Küche ab. Die Zubereitung des Essens verschlingt viel vom Tag. Das Wetter läßt auch nicht viel Bewegung zu, ob es regnet oder die Sonne scheint - fast immer ist es schwül-heiß.
Weitere Telefonate sind ergebnislos - entweder ist niemand zu erreichen oder sie wollen nicht sprechen.
Heute morgen kommt der Sohn meines Schwagers, aber er spricht nicht wegen Schüchternheit. Auch ich wüßte nicht, was ich fragen sollte.

Bleibe ich der Gefangene im Obergemach?
Schwiegervater ist ausgegangen, er bekommt einen neuen Orden verliehen, wegen drei Generationen erfolgreichem Dienst bei der Armee. Ich gehe nach unten um zu sehen, ob es etwas zu Essen gibt oder gar etwas Neues.
Da kommt Schwiegervater zurück - ein paar Stunden müssen vergangen sein - und zeigt seine Auszeichnung. Ich will herausfinden, welchen Rang Schwiegervater damals hatte.
Er meint "Captain". Ich mache Zeichnungen der DDR-Dienstränge, um Vergleiche zu ziehen, nur so ungefähr. 1988 mußte ich diese Dienstgrade in sehr kurzer Zeit auswendig lernen, um die korrekte Anrede parat zu haben. So bin ich gespannt, ob mein Gedächtnis nach 22 Jahren auf dem Gebiet noch funktioniert. Wie froh war ich, daß meine Laufbahn als Gefreiter nach 542 Tagen endete. Was auch immer hier passieren wird - die 33 Tage werden auch vergehen, ich will nur hoffen, möglichst angenehm.
Die Telefonverbindung mit einer Porzellanmalerin, die im vorigen Jahr Meißen besuchte,
um bei einem Porzellanmalermeister zu lernen und für die meine Frau am Telefon übersetzte, gelingt. Sie verspricht, sich zu revanchieren und uns Vieles zu zeigen -
sogar das Meer. Hoffnung dringt ins Obergemach. Wir gehen zum Markt.Gemeint sind unzählige Händler, Tische und Straßen in der Innenstadt mit wiederum unzähligen Fischen, Meerestieren, riesigen Zwiebeln, Bergen von Knoblauch und Pflanzen, die ich nicht einzuordnen vermag. Unterwegs treffen wir etliche Bekannte. Wir kaufen für 15.000 Won (etwa 15 Euro) von Schwiegermutters Geld ein und fahren mit dem Bus zurück.
Es ist extrem schwül und heiß, sodaß jeder Schritt schweißtreibend ist.
"Endlich mal schönes Wetter", sagt meine Frau.



30. Juni 2010 - Die Kunst der Kunst

Die Porzellanmalerin holt uns am Supermarkt um die Ecke ab, um mit uns nach Joengju zu fahren. Sie hat Geld - offensichtlich viel Geld - und führt uns herum. Die erste Station ist also Joengju und zwar eine Ausstellung eines Malers aus ihrer Klasse. Da bin ich ja als "Möchtegern" (?)-Künstler in meinem Element, jedenfalls hat es Spaß gemacht, sich mit ihr und auch dem jungen Maler über Kunst zu unterhalten. Ich versuche das wichtigste seiner Bilder zu deuten und liege gar nicht so falsch. Ich hege die Meinung, daß es in der Kunst (auch in der Musik) erlaubt sein sollte, Realitäten - so auch die unangenehmen -
darstellen zu dürfen. Ich stelle fest, daß diese Art von Kunst allerdings oft auf wenig Gegenliebe stößt, weil ja die meisten Menschen Probleme und vor allem den Schmerz gerne versuchen zu verdrängen. Aber das Leid ist Bestandteil dieser Welt und allgegenwärtig,
es wird sich immer Bahn machen, solange es existiert, auch wenn man versucht, es zu leugnen.
So gesehen, wenn ich es wage, mich Künstler zu nennen, bin ich ein Dokumentator des Weltschmerzes und stelle mich freiwillig ins Abseits der Verfehmten.
Und noch zwei Ansätze möchte ich an dieser passenden Stelle ergänzen: Wenn das Leid zu uns Menschen naturgemäß gehört und mit ihm Schmerz und Tod, sollte es vom Standpunkt der Evolution doch als völlig normal gelten und nicht als etwas Schlechtes,
das es zu ignorieren gilt. Ebenso wie der Mensch, hatte auch die Natur dieselbe Zeit,
sich zu entwickeln, aber die genannten Probleme gelten nach Millionen von Jahren immer noch als unnormal.
Der Gegensatz wäre dieser, daß Schmerz, Tod, Gewalt, Sinnlosigkeit und Degeneration von vornherein nicht normal sind und von daher auch nicht für immer bestehen sollen, also nur vorübergehend sind. Dann wäre es für die spätere Generation von großem Wert zu wissen, wie die Welt früher war, was es damals hieß, um das Überleben kämpfen zu müssen und das Tag für Tag. Die Wertschätzung einer Bewahrung dieses Wissens wäre enorm wichtig, weil die neue Generation sonst ihr Dasein ohne jegliches Leid, als eine Selbstverständlichkeit ansehen würde und der Milliarden Opfer niemals gedacht werden würde. Und vom christlichen Standpunkt aus wäre ohne Erinnern das Opfer Jesus Christus absolut sinnlos gewesen, weil eine Vorstellung des früheren Lebens ohne diese Berichte kaum möglich wäre. Die Auferstandenen aus den früheren Generationen hingegen haben ja ihr Leben voller Entbehrungen bis zu ihrem Tod führen müssen.
Aus diesem Grund sollte meiner Meinung nach die Realität in ihrer ganzen Klarheit, ganz ohne Lücken dokumentiert werden dürfen. Dies sollte ohne Jammern oder Belehren geschehen, ohne erhobenen Zeigefinger, vielleicht aber etwas emotional. Das ist mein Anliegen als Künstler und mein Lebensinhalt. Man kann die derzeitige Realität nicht so ohne Weiteres auf ein ganz schmales Spektrum reduzieren, etwa so, wie wir es an der zweiten Station sehen können:
Hier ist eine Malerin, die hauptsächlich Blumen und Zebras malt - alles sehr schön.
Man kommt also herein, erfreut sich an den Blumen und Tieren und geht wieder hinaus.
Was bleibt ist zwar der schöne Ausdruck dieser Dinge - immerhin ist das auch etwas und natürlich hat das seine Berechtigung - aber man hinterfragt nicht, man diskutiert nicht oder denkt tiefer über Details nach - und das ist es, was mir an den "Schönen Künsten" fehlt. Vielleicht darf ich abschließend noch einen kurzen Vergleich bringen: "Schon immer lebten sie glücklich und zufrieden". (Das einzige Märchen aus der schon immer glücklichen Welt).

Das ist also Monsun. Seit Tagen, eigentlich seit unserer Ankunft, ist es meistens trübes Wetter, aber schwül-warm. Für uns Deutsche ist das inzwischen ungewohnt, da trübes Wetter fast immer mit Kälte einhergeht. Hier aber ist es vor Hitze kaum auszuhalten.
Meine Frau sagt, daß die richtige Hitze erst nach dem Monsun kommt.

Wir werden zum Essen in ein nobles, uraltes, ganz klassisches Restaurant eingeladen. Nach vier Jahren ist das einmal wieder eine Zerreißprobe für meine nicht sehr gelenkigen Beine und bei einigen Speisen auch für die Geschmacksnerven.
Dann holen wir im edlen schwarzen Auto den Sohn der Porzellanmalerin im Kindergarten ab. Ich nutze die Gelegenheit und besichtige gleich eine solche Einrichtung von innen.
Auch morgen will sie uns auch abholen.
Zum Abschluß des Tages gibt es wieder eine Akupunktur. Der morgige Tag scheint sich wiederum nicht im Obergemach abzuspielen - und: wir werden ans Meer fahren!
Das Abenteuer wird weitergehen.


1. Juli 2010 - Immer noch Babylonsyndrom

Sie erscheint pünktlich in ihrem edlen, schwarzen Hyundai. Sie trägt die Haare offen und öffnet uns die Türen. Wir fahren nach Joengju. Es regnet leicht, trotzdem bleibt es schwül, der Himmel hüllt sich in tiefes Grau. Ein Aussichtspunkt mit kunstvoll geschmückten Dächern. Vor einer Halle mit Holzsäulen die übliche Anzahl Schuhe, wonach man die Besucher abzählen kann. Ein Mann liegt inmitten des Raumes auf dem Rücken und in einer Ecke sitzt eine kleine Personengruppe. Sonst Ruhe. Wäre nicht unterwegs die lärmende Stadt mit ihrer Reizüberflutung und der schlechten Luft, wäre dies ein schöner Ort, um länger zu bleiben. Nach einem Bummel durch zahlreiche Souvenirläden landen wir in einem, wo ich die sonst "Berühren verboten!" tragenden traditionellen Instrumente einmal bespielen darf. Man darf noch nicht mal fotografieren. Schon aber ist meine große Faszination für alles was Töne macht, wieder geweckt. Das Instrument, ein Kayagum, hat 12 Saiten. 12, diese magische Zahl: 12 Töne, 12 Monate, 12 Stämme Israels, 12 x 12 = 144.000 Auserwählte, 2 x 12 Stunden.
Bei dieser Reise möchte ich mich allerdings auf ein kleineres Instrument fokussieren,
das Haegum, ein Streichinstrument mit zwei Saiten, bei dem ich mich mit dem Hintergedanken trage, eines mitzunehmen - mal sehen, ob das machbar ist.
Der Tag endet in einem Kaffee, wo ich mit der Porzellanmalerin zusammen eine heiße Schokolade löffle - irgendwie schon eine intime Erfahrung. Dann unterhalten sich die Frauen länger und ich verschwinde wieder in meiner Traumwelt.
Meine Frau hat noch ein Treffen am Abend mit einer Freundin, die mir aber recht unsympathisch ist, weshalb ich die beiden allein lasse. Schon eigenartig, wie sich Menschen anziehen oder abstoßen können - hier wird dies besonders deutlich, da klar ist, daß es nichts mit verbaler Kommunikation zu tun hat. Ich gestehe, daß es für mich eine sehr spannende Erfahrung ist, die Sprache nicht zu beherrschen. Ja, der Leser hat richtig verstanden: "nicht zu beherrschen", denn dadurch schärfen sich notgedrungen die anderen Sinne, welche, die zuvor vielleicht gar nicht genutzt wurden. Eigentlich leiden diesmal die Anderen mehr unter dem von mir so benannten "Babylonsyndrom", weil sie ständig versuchen, auf herkömmliche Weise zu kommunizieren. Kommunikation findet eben nicht nur verbal statt, sondern auch Gestik, Tonfall, Blicke, Positionen und Verhalten sagen manchmal viel mehr aus als Worte, die zudem nicht immer ehrlich sind. Ein ganz wichtiger Faktor ist auch der Humor: Ist dieser bei einer Person nicht vorhanden, findet keine vernünftige Kommunikation statt. Zwar bin ich schon unzählige Male wegen deplaziertem Humor mißverstanden worden, aber das Risiko gehe ich immer wieder ein, denn nicht selten liege ich richtig mit der Annahme, daß ein Mensch, der nie lacht, mit Vorsicht zu genießen ist. Es gibt einige Menschen, denen ich am liebsten sagen würde, daß sie doch bitte auf der gegenüberliegenden Seite bleiben möchten - die Welt ist für uns groß genug - aber bitte jeder für sich! Das hat nichts mit Respektlosigkeit zu tun, denn eine Person, die ich bitte, nicht zu nahe zu kommen, möchte ich trotzdem respektvoll behandeln. Da ist sie wieder, eine meiner Antennen, aber ich denke, der Leser weiß, was ich meine. In diesem zweiten Reisebericht möchte ich versuchen, andere Ansichten zu beschreiben und hoffe, daß es dabei nicht zu Überschneidungen kommt. Es soll daher wichtig sein, auf Gedanken bezug zu nehmen, die durch Orte, Personen oder Ereignisse ausgelöst werden. Außerdem, wen interessiert schon das bloße Abhaken von Touristenzielen, Dinge, die jedermann,
der im Besitz von Geld ist, mindestens ein Mal im Jahr tun kann. Wer also an einer Reise an innere Orte interessiert ist - bitteschön, für denjenigen ist sicher der ein oder andere interessante Gedanke dabei. Für die Anderen, welche es tatsächlich bis hierher geschafft haben, muß ich leider auf einschlägige Reiseführer für 12,50 Euro verweißen - tut mir leid. Für die Ersteren geht es auch gleich weiter:


3. Juli 2010 - Am Berg der Heilung

Freunde holen uns ab zu zwei Tagen Jeonju. Ihre Wohnung im 10. Stock eines Standardneubaublocks ist kleiner als ihre letzte, aber im europäischen Stil eingerichtet und nicht mehr wie früher mit Unterrichtsräumen ausgestattet. Der Mann ist erwachsener und ernster geworden - was bei diesem Leben sicher unmöglich aufzuhalten ist. Die Menschen haben einfach keine Zeit, das Leben ist voller Verpflichtungen und die Hektik der Stadt läßt einfach keine Ruhe übrig. Deshalb freue ich mich besonders auf den kleinen Ausflug auf das Land, gleich hinter den Hochhäusern. Nach ein paar Kilometern Fahrt erreichen wir den "Berg der Heilung" - den habe ich eh dringend nötig. Es ist fast schon ein Schock, sich nach all dem Großstadtlärm plötzlich in einem tropischen Wald wiederzufinden. Aussehen tut dieser fast wie unser Thüringer Rennsteig, nur ist das Klima feucht und heiß, sodaß jeder Schritt Schweißausbrüche verursacht. Und der Klang: Dieser paßt so gar nicht zu seinem Äußeren. Schließe ich meine Augen, ist die Illusion des tropischen Regenwaldes perfekt. Was ich anfangs für lärmende Spatzen halte, sind in Wirklichkeit Insekten - ich vermute Zikaden. Diese übertönen alles, außer einem seltsamen Vogel, der ständig eine sehr einprägsame Melodie pfeift. Wäre nicht die Hitze und auch etliche Menschen in dem Wald, man könnte tatsächlich zur inneren Einkehr gelangen und somit zur versprochenen Heilung. Unterhalb des Weges gibt es eine Abkühlung in Form einer stark schwefelhaltigen Quelle, in die Etliche schon ihre Füße halten. Vom trinken des Wassers sehe ich lieber ab - gern hätte ich es gekostet, aber all die Berichte aus fernen Ländern, in denen sich zahlreiche Europäer ein schlimmes Virus holten, von Durchfall ganz zu schweigen, schrecken mich zu sehr ab. So begnüge ich mich auf äußere Anwendungen des Schwefelwassers. Den vielen farbenfrohen Fröschen scheint das Wasser gut zu bekommen. Durch ein Rohr kommen sie in das Becken, ruhen aus und machen sogar Sex.

Um die einzigartigen Extreme in diesem Land perfekt zu machen - die wohl in dieser Runde nur mir auffallen - besuchen wir zum Abschluß des Tages eine Kneipe, aber natürlich auf koreanische Art: Zahlreiche, lärmende Menschen, Kellnerinnen mit großen Wasserkesseln, in denen aber Reiswein ist und volle Tische mit den obligatorischen kleinen Schälchen voller Meerestieren, Grünpflanzen, Kimchi und mehr, bestimmen das Bild. Gleichmäßig im Raum verteilt finden sich unzählige Ventilatoren und Klimaanlagen - ich hatte es befürchtet. Ohne diese Techniken sähe man sich aber tatsächlich gezwungen, irgendwo im Schatten liegend die Hitze abzuwarten. Froh darüber, das nicht zu müssen, übertreiben es die Koreaner wieder, sodaß ich trotz der unbändigen Hitze draußen, in geschlossenen Räumen - und ich meine geschlossen! - stets friere. Wo immer es geht, bin ich auf der Flucht vor den Ventilatoren, suche mir "zugfreie" Plätze aus, schalte heimlich Geräte aus, öffne Fenster bzw. schließe sie hinter mir. Aber dieser Kampf ist natürlich aussichtslos und so muß ich den Härtetest wohl oder übel überstehen und mit brennenden Augen und trockenem Hals klarkommen. Auffällig allerdings ist: Die Klimaanlagen, auch in den Autos, sind nicht so aggressiv wie in deutschen Landen, bei denen es mir sofort schwindelig und schlecht wird und die nächsten Tage und Wochen oft mit eitrigen Entzündungen ausgefüllt sind.
Sicher arbeitet man hier an diesem Problem. Ohne diese ganze "lebenserhaltende" Technik zu leben, würde mir aber besser gefallen.
Ein weiterer Härtetest besteht im Fehlen von Alkohol. Ich sehe niemanden Bier trinken, schon gar nicht während oder nach den Malzeiten. Schnaps, Wein und Bier sind unglaublich teuer, sodaß ich ein schlechtes Gewissen bekomme - nach dem Probieren etlicher mir unbekannter Speisen - an ein Schnäpschen zu denken. Der Reiswein aber schmeckt mir gar nicht, ich muß mir den Becher reinzwingen und bleibe danach beim mitgebrachten Wasser, welches ich mir unter dem Tisch einschenke. Mineralwasser zu besorgen ist oft abenteuerlich und wird mir sicher inzwischen als Kauzigkeit ausgelegt. Wieder muß ich an meine "Antennen" denken, die, ständig auf Empfang gestellt, mir das Leben nicht immer bereichern. Und so stellt sich diesmal in der Kneipe, mittendrin, hinter mir Zugluft, kein Alkohol und viele durcheinander lärmende Menschen, unbekannte Worte redend,
kein Wohlbehagen ein. Der Makgeolli (Reiswein) wirkt nicht.
Im Fernseher über mir kommt ein ausführlicher Bericht über den Freitod des jungen Entertainers Bag Jung Ha.

 

5. Juli 2010 - Beim Professor

Nach anfänglichen Unklarheiten, ob der junge Professor mich behandeln darf oder nicht und dem Zahlen von 30.000 Won, nur, daß er mich einmal ansieht, bittet er mich schließlich doch noch herein. Meine Frau übersetzt wieder. Nach dem benennen der nicht wenigen Symptome lautet die Diagnose, daß ich sehr schwach bin und auch mein Immunsystem, deshalb fange ich mir immer dies und das ein. Das dachte ich mir schon. Zunächst einmal richtet der Professor meinen Kopf, der schief auf seinem Hals sitzt, mit einem lauten Knirschen wieder ein. Phantastisch - so gut konnte ich ihn noch nie nach rechts und links drehen! Beim Einrichten des Rückens bin ich aber zu verkrampft, da siegt wohl wieder einmal die Angst. Bei den Schmerzen in meinem linken Ellenbogen handelt es sich um einen Tennisarm. Ich muß fast lachen, schließlich habe ich noch nie Tennis gespielt, und schon gar nicht mit links. Ich soll Fleisch meiden und Vergorenes, also auch Bier und Honig, die haben Histamin in sich, ebenso die Allergien. Am besten also soll ich immer koreanisch essen mit viel Grünzeug, dann werden die meisten Symptome verschwinden. Beim Schlafen soll ich unbedingt flach liegen. Dann verschreibt er mir Reizstrom, Rotlicht und eine Akupunktur für meinen Arm. Neben mir im Behandlungsraum liegt schon unser Gastgeber, er wird am Rücken geschröpft. Auch bekommt er eine 10 Zentimeter lange Nadel in den Hintern. Meinem Arm geht es danach etwas besser, aber weitere Behandlungen wären nötig und wollen bezahlt werden.

Die Porzellanmalerin holt uns im schwarzen Hyundai ab. An der Tür ihrer riesigen Wohnung empfängt uns ihre Haushälterin, die sofort für die Bequemlichkeit sorgt. Alles hier drinnen riecht nach großem Reichtum. Ihr Mann - den ich nie zu Gesicht bekomme - bringt viel Geld nach Hause. Die Hauptbeschäftigung gilt ihrem kleinen Sohn, von dem überall lebensgroße Bilder an den Wänden hängen. Den lästigen Haushalt nebst Kochen und Putzen erledigt natürlich die Haushälterin. In der Freizeit widmet sie sich dem Meißener Porzellan, deshalb war sie im vorigen Jahr in Deutschland. Am Mittwoch soll ich einen Workshop vor 10 Leuten abhalten, über Meißen, die Deutsche Lebensart und das Porzellan, zu ihren mitgebrachten Fotos. Das ist sicher kein Problem - "ich bin ein Mann mit vielen Talenten". Aber so richtig gefallen mir die Wohnung, das Umfeld und die eigenartigen Handlungen, mit denen ich mich für die guten Gaben revangieren soll, nicht.


6. Juli 2010 - Der Seeräuber

Mein Schwager erscheint und wir fahren zusammen mit Schwiegermutter und einer Freundin, die wir unterwegs, da, wo meine Frau ihre Kindheit verbrachte, abholen, ans Meer. Wenngleich ich wieder ein Deja Vu habe, freue ich mich sehr, nach vier Jahren das Meer wiederzusehen.
Alles ist in dichten Nebel gehüllt, der nur ab und zu aufreißt, um für einen Moment ein Stück blauen Himmels freizugeben. Trotzdem ist es schwül-heiß. Zuerst geht es zum Essen -
eine jener unglaublich teuren Meeresspeisen, dort, wo - diesmal in einer zweistöckigen Halle - viele Aquarien mit Tintenfischen, Muscheln, Kraken, Haien, Schnecken und Würmern, darauf warten, geschlachtet und sogleich verspeist zu werden. Einen derartig praktischen Ort habe ich bei der letzten Reise nicht gesehen. Hier ist jeder Zentimeter nutzbringend eingerichtet: Die Tiere, die Frauen, die diese verarbeiten, die Werkzeuge, die Gäste, die die Tiere essen - alles ist perfekt integriert. Es fällt mir schwer, eine solche Menge Muscheln, Schnecken und Tintenfische ohne Reis hinunterzubringen, also bestelle ich welchen - unverständlich für die Einheimischen, handelt es sich bei den Meeresfrüchten doch nur um die Vorspeise. Zumindest eine kleine Flasche Getreideschnaps bestellt mein Schwager -
die Rettung!
Dann endlich das Meer. Das ist immer der Höhepunkt für mich, wenn ich nach langer Zeit wieder meine Hände und Füße von den Wellen umspülen lassen darf. Trotz des Nebels ist es warm und sogar kleine Wellen gibt es. Gerüche gibt es kaum. Gerade ist Ebbe, sodaß man recht weit hineinlaufen kann. Irgendwo da draußen liegt China, bestätigt mein Schwager. Wirdürfen eine Nacht im Hotel verbringen und die Anderen fahren ab. Das Hotel ist nobel eingerichtet, mit feinen Tapeten und Verzierungen an den Wänden, sogar ein Computer nebst Internetzugang gehört zur Ausstattung des Zimmers. Diesen nutze ich, um Informationen für den morgigen Workshop über Porzellan zu suchen. Als wir vom Spaziergang am Strand zurückkommen und einer Wanderung über bizarre aber wunderschöne Felsformationen, die bei Flut unter Wasser liegen, erfahren wir an der Rezeption, daß der Besitzer der hiesigen Pizzeria uns sehen will. Also wieder eine Einladung - langsam wird mir das zuviel und das stundenlange Zuhören ermüdet stark.
Wir nehmen in der extrem Ventilatorbestückten Pizzeria platz, die völlig leer ist. Der Besitzer, der erste vollbärtige Koreaner, den ich treffe, wartet schon vor der Tür auf uns. Der Mann erinnert mich an einen alten Seeräuberkapitän, auch von seinem Auftreten her. Der Kerl, der die Pizzen austrägt, sieht auch aus, als könne er bei Bedarf richtig austeilen. Als ich statt Mekzu (Bier), Schnaps verlange, habe ich den Seeräuber aber sofort auf meiner Seite und muß ihm, der ja der Gastgeber ist, immer wieder Bier mit Schnaps einschenken. Die Sache klärt sich zumindest teilweise so auf: Der Pizzeriabesitzer ist des Schwagers Armeekamerad und seine Frau, die von der Meeresfruchtabteilung, die, die unser Mittagessen zubereitete. Somit können und sollten wir diese Beziehungen nutzen, um die Preise zu reduzieren. Der alte Seebär macht mir aber fast schon Angst, als er ständig Schnaps nachgießt und ich schon fürchte, ihn enttäuschen zu müssen. Endlich dürfen wir ins Hotel zurück. Ich hinterlasse noch schnell einen Spruch an seiner Wand,
wie es hier in den Kneipen so üblich ist. Er sagt mit Nachdruck, daß wir ihn unbedingt anrufen sollen, wenn wir im nächsten Hotel ein Zimmer buchen bzw., wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. Wahrscheinlich kommt dann noch sein breitschultriger Pizzaträger mit und die Sache wird unkompliziert "geregelt".


7. Juli 2010 - Hochstapler und Exoten

Am nächsten Morgen ziehen wir mit unserem schweren Rollkoffer zu Fuß um ins Hotel Temjong - das größte, nobelste und teuerste von Gyeopo-ri, Byeonsan-myeon, Buan-gun, Jeollabuk-do um. Hier soll der angekündigte Porzellanworkshop stattfinden. Irgendwie fühle ich mich in meiner ausgebesserten und schlabbrigen Hose und dem ärmellosen T-Shirt etwas fehl am Platze. Aber egal, ich kann das alles sowieso nicht so recht ernst nehmen, diesen ganzen Prunk, Marmor, die blendenden Lampen und die Leute im feinen Anzug.
Die Porzellanmalerin und ihre neun Kongreßbesucher treffen erst gegen Mittag ein.
Zeit genug, um die Lage zu erkunden und uns ins kleinste Zimmer einzumieten, obwohl die Porzellanmalerien uns mehr Luxus zugedacht hat. Das kleinste Zimmer mißt immerhin 32 Quadratmeter und hat Meeresblick mit allem Komfort und zurück.
Das Hotel ist eigentlich eine kleine Stadt für sich, voller High-Tech und allen möglichen Vergnügungszentren wie einer Wasserwelt, Liegen unter Palmen, Einkaufsmöglichkeiten und, und, und. Irgendwie erinnert mich das an L. A. oder Miami Beach, obwohl ich noch nie da war. Aber so richtig interessiert mich das auch gar nicht und ich will doch immer nur runter zum Strand, der gleich vor der Tür liegt, obwohl dafür eigentlich keine Zeit ist.
Schon wieder heißt es Essen und endlich fängt auch der Vortrag an, den ich nun vor acht Porzellanfans (alles Frauen und Mädchen), halte. Ich erzähle also was zu Fotos aus Meißen, die ich per Computer auf einen großen Fernseher projiziere. Die Informationen aus dem Internet, ausgeschmückt mit meiner improvisierten Rede, das ganze übersetzt von meiner Frau, muß trotzdem einen guten Eindruck gemacht haben, jedenfalls bringt es uns reichlich Geschenke und Pläne für die nächsten Tage ein. Blitzlichtgewitter und gute Minen zum, wie ich meine, sinnlosen Theater, gehen mir langsam aber sicher stark auf die Nerven. Ich würde gerne einfach mal in Ruhe am Strand liegen, auch wenn der Aufenthalt von 25 Minuten im Freien, bereits einen leichten Sonnenbrand verursacht hat. Aber es sieht so aus, als hätten wir durch unsere Anwesendheit wirklich schon vielen Leuten Freude bereitet und aus diesem Blickwinkel ist es erträglich. Trotzdem: Mit Ruhe hat das Ganze nichts zu tun. Ohne die Porzellanmalerin aber hätte ich sicher nie solch ein Hotel betreten dürfen und es ist schon seltsam, daß ein bettelarmer Ossi unerkannt in den höchsten Kreisen verkehrt. Irgendwie fühle ich mich in der Rolle als Hochstapler oder Exot aus einer fremden Welt nicht richtig wohl in meiner Haut. Ein bescheidener aber selbst verdienter Urlaub wäre besser als dieser Luxus und die vielen verpflichtenden Einladungen. Da es aus dem aber wohl in den nächsten Jahren wegen dem kreisenden Pleitegeier nichts werden wird, nehme ich die Abenteuer am laufenden Band an, aber nicht ernst.


8. Juli 2010 - Echte und künstliche Welten

Die Freikarten für die hiesige Wasserwelt und das amerikanische Frühstück veranlassen mich, wenigstens mal nachzuschauen, wie das aussieht. Grotesk, daß so viele Hotelbesucher lieber die künstlich erzeugten Wellen und die Wasserbecken mit dem chemisch gereinigten Wasser benutzen, als die 20 Meter zum Strand zu gehen.
Freilich, das Wasser im Hotel ist angewärmt und überall stehen Aufpasser, aber der Badekappenzwang und das Schwimmen mit Schwimmweste rauben mir sofort die Lust, zudem wollte ich ja sowieso jede freie Minute am Strand verbringen. Schnell noch eine Fotosession für die Porzellanmalerin, die mit ihrer riesigen Spiegelreflexkamera alles festhält. Sogar ein Banner mit Werbung für die Porzellantruppe muß mit aufs Bild. Sollen sie doch ihren Spaß haben und auch mal einen Exoten auf dem Bild haben - soviel Interesse wird mir ja zuhause in fünf Jahren nicht entgegengebracht. Nur schade, daß hauptsächlich nur die Personen und nicht die Taten von Interesse sind.
Also klinken wir uns so schnell es geht aus und gehen zum Strand. Endlich mal im Meer schwimmen, ohne nach zwei Minuten zu frieren, und Quallen gibt es heute auch nicht so viele. Gestern noch hatten sich unzählige, handtellergroße Exemplare an mich geschmiegt und veranlaßt, lieber Land zu gewinnen. Es ist Ebbe und wir können über die flachen Felsen gehen, über warmes Gestein, durch viele kleine Pfützen mit kleinen Krebsen, Muscheln und bunten Farben darin, kleinen Fischen und farbenfrohen Mischungen zwischen Pflanze und Tier - ein Farben-, Formen- und Strukturenspiel von einzigartiger Schönheit.
Es ist, als könnte man auf einem Korallenriff spazieren gehen, ohne auf frische Luft und Sonnenschein zu verzichten. Die Ebbe hat viele dieser kleinen Tiere in den Pfützen eingeschlossen, die nun auf die nächste Flut warten müssen, wenn sie nicht vorher durch die Sonne austrocknen wollen. Die Sonne aber ist extrem gefährlich, unbedingt sollte man seinen Körper komplett verhüllen, sonst ist schon nach kurzer Zeit ein Sonnenbrand garantiert. Der große Reichtum an Strukturen und Farben veranlaßt mich, dauernd stehenzubleiben und zu staunen und ich hoffe, daß der Speicherplatz der kleinen Kamera nicht allzu schnell voll ist. Der russische Regisseur André Tarkowski hat in seinen Filmen "Stalker" und "Solaris" minutenlange Einstellungen solcher Szenarien in Wasserpfützen verwendet. In jeder Pfütze existiert ein Miniaturuniversum, in dem sich unglaublich viel entdecken läßt, hält man nur inne und läßt sich darauf ein. Solche Dinge haben mich immer schon sehr inspiriert - hier hätte ich die Möglichkeiten. Allein für diese sich mit Ebbe und Flut ständig verändernden, faszinierenden Biotope hat sich die Fahrt schon gelohnt. Aber was tun die Menschen? Zu wenige nur nehmen - wenn überhaupt - diese Dinge nur sehr oberflächlich war. In diesen "Suchbildern" könnte man sich stundenlang verlieren -
was kümmert mich das Luxushotel!
Wäre ich nicht an die Anderen gebunden, hätte mich nur die Flut von hier vertrieben.
Aber die Koreaner (nur die Koreaner?) füllen ihre Tage mit zu vielen verschiedenen Dingen aus.
So brechen wir auf. Nach einer Nacht im Hause geht es auch gleich weiter.


9. Juli 2010 - Auf Tournee

Wir fahren mit der Porzellanmalerin 300 Kilometer über endlose Autobahnen und durch zahllose Mautstellen nach Na Tseon im Bundesland Jeon La Nam Do. Dort wird ein Bild (Öl auf Holz) von ihr ausgestellt. Ihr Meister und etliche andere Künstler sind auch da. Es ist nur ein kleiner Ort und der ist komplett auf den Beinen - wahrscheinlich finden hier aber in dem Kunstzentrum regelmäßige Ausstellungen statt. Ich hatte sofort zugesagt, als ich hörte, daß es um Kunst geht und hoffte natürlich wie immer, zu diesem Thema ins Gespräch zu kommen. Nach einer viel zu langen Laudatio bekommen wir klassische Musik zu hören - tolle Sänger und Sängerinnen mit großartigen Stimmen. Aber worauf die zahlreichen Besucher am meisten warten, ist das Buffet, welches sehr reichhaltig ausfällt. Von verschiedenen Fleischsorten, Meeresfrüchten, Salaten, Bondegi (die Puppen des Seidenspinners), Fisch und sogar Bier und Kuchen ist alles da, und bei dem Festessen wird kräftig zugelangt. An die umfangreiche Bildersammlung denkt jetzt niemand mehr. Da wir aber recht spät kommen, lassen wir uns das Licht noch einmal einschalten, um die Bilder trotzdem noch zu sehen. Von sehr schön, über sehr interessant bis hin zu furchtbar ist alles vertreten und ich erdreiste mich zu denken, daß ein Bild von mir (es waren auch Fotos darunter), auch hier hin gepaßt hätte. Nachher, draußen, bekomme ich aber auch ohne Bilder, als einziger Ausländer viel Aufmerksamkeit. Ein wenig mehr Kunst wäre trotzdem schöner gewesen - aber es ist wie überall, viele kommen wegen dem Essen, das merkt man, weil sie sich während der Musikdarbietung ausgelassen unterhalten - wahrscheinlich über den letzten Urlaub.
Dann fahren wir in ein neues Hotel irgendwo auf dem Lande. Diesmal gibt es keine Betten, das stört mich nicht, Hauptsache es gibt Ruhe - und die läßt wie immer bis spät in die Nacht auf sich warten. Bei einer abendlichen Wanderung durch das ansonsten luxuriös ausgestattete Hotel, finde ich ein Klavier, das ich ein wenig betaste, während die anderen sich bis drei Uhr morgens mit Karaoke die Zeit vertreiben - wenigstens das bleibt mir erspart. Die Nacht wird kurz und zeitig gibt es Frühstück in dem zugigen, hiesigen Restaurant. Am Nachbartisch liest ein Mann einer älteren Frau die Hand, man sagt, er wäre ein wahrer Meister. An unserem Tisch unterhält sich meine Frau mit zwei fremden Frauen - es geht um Gesichter. Dann treten wir die Rückreise an. So muß das Leben auf Tournee sein, denke ich.
In Iksan erwarten uns schon meine Nichte und ihr Vater.


10. Juli 2010 - Familienfotos

Wir verabschieden uns von der Porzellanmalerin und ihrem Sohn recht herzlich und danken für die großzügigen Einladungen und die "Tournee". Die beiden fliegen bereits übermorgen nach Mein Schwager holt uns ab und im Hause treffe ich nach vier Jahren endlich mal meine Lieblingsnichte wieder. Diese hat sich prächtig entwickelt, ist jetzt 12 und fast so groß wie ich. Jetzt müßte sie mich eigentlich herumtragen, wie ich es vor vier Jahren mit ihr tat.
Sie freut sich über die mitgebrachten Geschenke und ich arrangiere ein Familienfoto, jetzt, wo einmal so viele Angehörige beisammen sind. Daß es noch mal ein richtiges Familientreffen geben wird, ist fraglich. Jedenfalls scheint nun doch unser Aufenthalt in Seoul, kurz vor dem Heimflug, gesichert. Geschwisterstreitigkeiten sind mir als Einzelkind stets ein Mysterium gewesen. Diese Beziehungen sind unstet wie das Wetter im April und niemals vorhersehbar. Nach einem gemeinsamen Essen in Schwiegermutters Zimmerchen auf dem Fußboden - es gibt heute Hühner mit Knoblauch - müssen die beiden auch schon wieder los, sie fahren mit der Bahn bis Seoul, was sicher auch drei Stunden dauern wird. Ob wir uns in Seoul noch mal wiedersehen?


11. Juli 2010 - Über die Wahrheit in Büchern

Die Freundin meiner Frau holt uns ab, sie bat, mitkommen zu dürfen, wenn wir uns mit den anderen Freunden treffen. Ihre kranke Mutter, die wir vor vier Jahren im Krankenhaus besuchten, ist inzwischen gestorben und nun lebt sie allein. Diesmal scheint sie mich besser leiden zu können, aber sie hat eben Probleme mit Männern, da in ihrem Leben nie welche vorkamen. Im Grunde hat sie mit dem Leben abgeschlossen und für sie zählt nur noch der Glaube an eine bessere Welt, irgendwann in der Zukunft - was ich absolut nachvollziehen kann. Mit 51 ist sie zu unattraktiv für die Männer und noch dazu arm.
Wer nämlich nicht reich ist, muß sich sowieso im Hintergrund halten, denn jede Bewegung kostet Geld - eine Tatsache, die auch für mich in Deutschland immer deutlicher wird. "Europa ist tot", sagte gestern mein Schwager, der sicher in dieser Hinsicht als Ingenieur, der nicht nur oft nach Deutschland fliegt, sondern auch in andere Länder, hier einen guten Einblick hat. Meine Frage nach dem Warum, beantwortet er mit: "Deutschland ruht sich auf seinem Stolz und Konservativismus aus und verpaßt so den Fortschritt, der inzwischen ein paar Stufen genommen hat." Viele Menschen, die im oder nach dem Krieg geboren wurden, sehen die in den 60 Jahren danach noch immer an die Juden zu richtenden hohen Summen für die (angeblich) alleinige Schuld Deutschlands am 2. Weltkrieg, als Ursache an. Diese Zahlungen richten das Land zu Grunde. Nicht zu vergessen ist auch die Angst, die durch die perfekte Propaganda geschürt wird, daß Deutschland wieder Krieg machen würde, wenn es wirtschaftlich besser dastünde, das spielt da ebenfalls keine unwesentliche Rolle. Dies ist die Meinung Vieler, die natürlich niemals öffentlich gemacht werden darf und deshalb auch nicht im Ausland verfügbar ist. Fragen zum Thema "Deutschland" werden auch immer sehr präzise nach der Geschichtsschreibung der Sieger beantwortet. Ich enthalte mich hier öffentlich der Stimme - nicht aus Angst, in der Naziecke mundtot gemacht zu werden, sondern weil ich weiß, daß es nichts ändern wird, denn dieses heikle Thema wird sicher erst dann objektiv behandelt werden können, wenn beide Parteien nicht mehr existieren - das ist meine Meinung. Wer die Wahrheit herausfinden will, sollte sich keinesfalls auf die Medien verlassen, denn diese waren zu allen Zeiten in der Hand der Machthaber und ein wenig Fortschritt (auch in Deutschland) sollte man denen schon zutrauen. Als ich das erste Mal den Film "1984" von Orwell sah (bzw. den Roman las), dachte ich: "Genau das haben wir jetzt, nur sauberer und besser in technischer Hinsicht". Einen Überwachungsstaat, die Zerstörung der Sprache, einhergehend mit einer gezielten Verdummung der Massen und die beste Propaganda aller Zeiten. Wenn ich die Wahrheit in gedruckter Form verbreiten wollte, würde ich sie in ein Buch schreiben, das keiner ernst nimmt, vielleicht in einen "fiktiven" Roman, der wird nicht so schnell verboten. Deshalb sollte man in diesem Zusammenhang auch mal darüber nachdenken, wie ein möglicher Schöpfer der Menschheit eine "Gebrauchsanweisung" bzw. seinen Plan, ohne Zwang und zu allen Zeiten dauerhaft zugänglich machen könnte. Ich finde die Idee mit dem "unzerstörbaren", weil überall erhältlichen und zudem noch kostenlosen Buch, jedenfalls logisch und elegant.
Aber hier wiederhole ich mich sicher wieder: Korea ist uns tatsächlich einige Jahre voraus - hier haben wir einen weitaus perfekteren Kapitalismus als in Deutschland und man kann hier sehr gut in die Zukunft blicken, zumindest für ein paar Jahre. Und obwohl ich mir sicher bin, daß der Kapitalismus der letzte Versuch der Herrschaft des Menschen über den Menschen darstellt, fährt mir doch eine große Angst in die Glieder, eine Angst, nicht vor dem unausweichlichen Ende, nein - vor dem bevorstehenden Leid. Noch haben es selbst die Armen in Deutschland relativ gut, auch wenn es schwerer und schwerer wird,
ein würdevolles Leben zu führen, aber Systeme sind stets ohne Vorankündigung gefallen und ich werde nicht auf die "hochzivilisierte" und "fortschrittliche" Welt von heute pochen,
dazu brodelt es schon zu stark im Untergrund. Dazu stelle ich gerne die folgende Frage: "Hast du noch viel "Wichtiges" zu erledigen, oder bist du einverstanden, daß es noch heute passiert?" In meinem Tagebuch darf ich ja sagen: "Ich bin bereit!"
Nach dem Essen in einem sehr europäisch anmutenden Restaurant, indem es kein Fleisch gibt, obwohl manches danach schmeckt, besuchen wir einen Park in Jeonchu, in dem gerade in einem großen See der Lotos blüht. Der ganze See ist voll davon und der Park selbst ist voller Menschen, trotz des seit drei Uhr in der Frühe anhaltenden Regens.


12. Juli 2010 - Unterhaltungen

Ein Brückentag. Nach dem heimschleppen des täglichen Nahrungsbedarfs ist es schon Mittag und ich verbringe den Rest des Tages mit Lesen. Schwiegervater ist wie immer tagsüber außer Haus, wahrscheinlich bei einer neuen Freundin. Ein paar Stunden im Monat arbeitet er noch in einem Büro - er kennt sich aus. Nur nicht im Umgang mit seinem Goldfisch, der in einem viel zu kleinen Plastikkübel schwimmt. Bevor er also aus dem Haus geht, gibt er ein wenig Salz hinein, damit der Fisch munterer wird. Und tatsächlich bewegt er sich jetzt schneller - sicher aus Panik und Schmerz. Schwiegermutter widmet sich hauptsächlich dem Fernsehen. Ich drücke ab und zu in einer Schreibpause mal durch die Programme, schalte aber nach kurzer Zeit entsetzt wieder ab. 50 Sender mit überdrehten jungen Leuten, die ohne Grund ständig lachen, laut schreien und sich mit schrillen, bunten Klamotten gegenseitig lächerlich machen, darüber Werbeeinblendungen, Geräuscheffekte und Sprechblasen, sodaß vom Bild selbst kaum noch etwas übrig bleibt - kein Verlust! Habe ich dann mal einen Sender gefunden, wo durchaus auch mal etwas Interessantes kommt, wird die Sendung alsbald durch Werbung für lange Zeit unterbrochen. Das Ganze erinnert schon auch an das deutsche Fernsehen mit seinen Realityshows, Big Brother und die unzähligen Freakshows, wo Leute von der Straße eingekauft werden, die sich dann durch Dämlichkeit überbieten müssen. Nur ist das hier noch weit überdrehter und voller Reizüberflutung, wie die Geschäfte in der Stadt. Man muß sicher kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu begreifen, was hiermit erreicht werden soll.
Ganz leicht kann man beobachten, wie lange sich ein moderner Mensch noch auf eine Sache konzentrieren kann, ohne zwischendurch nicht zumindest einmal sich mit seinem Telefon zu beschäftigen - erschreckende Beobachtungen, die aber zu denken geben.
Ich frage mich hier ständig, ob das alles noch weiter zu unterbieten ist.
Eine weitere Freundin und ihre Mutter kommen zu Besuch. Wir sitzen in Schwiegermutters Zimmerchen. Nicht lange danach kommt noch jemand dazu und das Bett muß als Sitzgelegenheit noch mitgenutzt werden. Ich schlage vor, das geräumige Obergemach zu nutzen, aber keiner hat Interesse daran. Etwas kafkaesk, denke ich - da spielen sich auch ellenlange Dialoge auf dem Bett ab. Die üblichen, ermüdenden Gespräche. Ich hatte gehofft, etwas über das traditionelle Instrument, das Haegum zu erfahren, mit dem ich mich in Korea näher beschäftigen wollte, aber außer, daß mir da nächste Woche in Seoul eine Verwandte weiterhelfen kann, ist nichts herauszubekommen. Hätte ich nicht Lust zum Schreiben und Lesen, wäre es an manchen Tagen unerträglich langweilig. Ein wenig kreative Arbeit fehlt da inzwischen schon. Die drei Frauen wollen noch Bier (!) trinken gehen. Da ich sicher bin, daß das lange dauern wird und für mich aufgrund des "Babylonsyndroms" extrem ermüdend, bleibe ich lieber im Obergemach. Das Sprechen einer Zweitsprache erscheint mir wie eine unüberwindliche Hürde. Sofort muß ich an meine Kindheit denken, an die Paukerei im Russischunterricht und das Lernen von Vokabeln bis spät in die Nacht. Ein ständiges Wiederholen von Wörtern, um dann am Ende gerade Mal "Guten Tag", "Ich heiße." und ein paar einfache Redewendungen zusammenzubringen. Aber oft kommt die Frage, warum ich nach acht Jahren Ehe mit einer Koreanerin keine echten Gespräche in "hangkuk" (koreanisch) führen kann. Das verursacht schon manchmal ein schlechtes Gewissen und mir fallen immer nur Ausreden ein wie: "Keine Zeit",
"zu schwer", etc. Die Wahrheit aber müßte sicher heißen: "Ich habe keine Lust!" Da das mein Reisetagebuch ist, darf ich zu meiner Verteidigung sagen, daß ich realistischerweise dafür in der Woche einige Stunden reservieren müßte und logischerweise die einzige "sinnlose" Zeitvergeudung, nämlich die Musik, weglassen müßte. Ich dachte wirklich,
daß mein koreanischer Wortschatz ausreicht, um hier alle paar Jahre mal klarzukommen,
aber langsam fällt es auf, daß ich mich gedrückt habe. Sollte ich wieder pauken?
Wer hat eigentlich gedacht, daß Abenteuer immer schön sein müssen?


13. Juli 2010 - Platzmangel

Der Speicher der kleinen Kamera ist fast voll, weil ich so viele Filme gedreht habe, diese sind einfach für manche Aussagen besser, aber ich muß sehr sparsam damit umgehen und doch lieber Fotos machen. Eine weitere Speicherkarte zu kaufen ist zu teuer. Da dachte ich nun, in dem Land, das technisch viel weiter in Sachen Computer ist - hier sind ja selbst Computer in die Toiletten eingebaut - sind die Speichermedien entsprechend billiger.
Aber dem ist nicht so, diese Dinge sind etwa doppelt so teuer. Also laufen wir eine halbe Stunde durch Iksan bis zu einer Bibliothek, wo die Computerbenutzung kostenlos ist.
Hier gelingt es, einige der Filme auf einen mitgebrachten Speicher umzulagern, um auf der Kamera neuen Platz zu schaffen. Aus meinem E-Postfach erfahre ich, daß das schreckliche Magen-Darmvirus, welches mich vor der Reise für drei Wochen flachlegte, wieder am Wüten ist. Schöne neue Welt, da sind wir nun hochtechnisiert, aber machtlos gegen winzige Lebensformen, die uns jederzeit töten können. Im Grunde sind doch die Menschen hilflose, schwache und bemitleidenswerte Geschöpfe, die nur einsehen müßten, daß sie auf allen Gebieten der Hilfe und Anleitung bedürfen.
Wir wollen mit dem Bus zurückfahren, landen aber wieder am Ausgangspunkt, so kommen wir zu einer einstündigen Stadtrundfahrt. Der Tag ist eh rum und so essen wir noch unterwegs, bevor wir wieder heimlaufen. Eigentlich klingt es ja logisch, daß man an einem heißen Tag wie diesem, das Essen kalt serviert bekommt (mit Eis in der Soße), aber da bin ich wohl doch zu kauzig und bestelle warme Soße zu den Nudeln.
Im Fernsehen ist ein Franzose, der perfekt Koreanisch spricht (trotz seines Akzents),
alles ißt und das sehr gerne. Der Nachbarin ihr Schwiegersohn ist auch so einer -
deshalb mag sie mich nicht. Wenn es doch nur mehr Toleranz auf der Welt gäbe! Ich will in mein Obergemach!
Als es dunkel wird, machen wir noch einen kleinen Spaziergang durch die engen Gassen in der Nachbarschaft, die engsten messen weniger als eine Armspanne. Hier reiht sich Haus an Haus und keines davon befolgt symmetrische oder gar ästhetische Gesetzmäßigkeiten. Hier wird nicht nur jeder Millimeter ausgenutzt, hier schert sich vor allem niemand darum, ob eine Mauer gerade ist oder nicht. Zwischen- und mittendrin sind winzige Fensterchen, niedrige Dächer, kleine Fleckchen Erde zwischen dem Beton, wo etwas angebaut wird, kleine Hunde kläffen, buntes Pflaster, wie sie es gerade hatten, alles verwinkelt und verschachtelt und Kabel, überall Kabel. Hier würde ich garantiert nie wieder allein herausfinden, wäre nicht meine Frau bei mir.
Im Obergemach steht die Hitze des vergangenen Tages. Ich sorge für Durchzug und schalte den Ventilator ein, während ich mich das x-te Mal dusche. Warmes Wasser gibt es hier oben nicht, aber das wäre auch nicht nötig. Ohne kalte Dusche aber ist es nicht möglich, einzuschlafen und die Fenster zur Straße müssen geschlossen bleiben wegen den Dieben, die des Nachts schon mal durch ein Fenster steigen. Vor ein Uhr komme ich nie zur Ruhe.


14. Juli 2010 - Platzverschwendung

Am Nachmittag buntes Markttreiben. Die unzähligen Eindrücke würde ich gerne noch etwas länger auf mich wirken lassen, aber die schweren Tüten, die wir sammeln, drängen nach dem Nachhauseweg - zum Glück per Bus. Während meine Frau das viele Grünzeug zu Kimji verarbeitet, gehe ich alleine zum E-Mart, um Wasser zu holen, da ich noch immer kein Leitungswasser anrühren mag. Kurz zuvor, beim Lesen meines mitgebrachten Romans "Ditte Menschenkind" von Martin Andersen Nexö steht plötzlich Rauch im Obergemach.
Ich halte mir das Taschentuch vor den Mund und stürme die Treppe hinunter, da ich an einen Anschlag glaube. Die Fenster zur Straße sind tagsüber immer offen. Aber dann wird mir schnell klar, daß ich den Geruch schon kenne. Es ist der gleiche wie neulich am Meer, wo ein Mann mit seinem Moped, auf dem er eine Art Gebläse mitführte, durch die Straßen zog, um Menschen, Häuser und Straßen in dichten Nebel zu hüllen. Nachgefragt, erfahre ich,
daß es sich bei dem Nebel um eine Art Mückenspray handelt.
Auf dem Weg zum Kaufhaus, den ich nicht ohne Zeichnung antrete, da ich ja nicht koreanisch lesen kann, entdecke ich den Übeltäter mit dem Mückengift, er hatte gerade eben seine Runde gemacht und folgt jetzt in meine Richtung. Schnell biege ich ab.
Ich glaube, die Mücken werden eher sterben, aber der Mann, dessen Lebensunterhalt das sicher ist, wird ihnen sicher bald folgen.
Im riesigen Einkaufszentrum mit dem gleißenden Licht lasse ich mir Zeit, sodaß sich schon alle Sorgen machen.


15. Juli 2010 - Zerbombt

Ein extrem heißer Tag, den ich fast nur auf dem Bett verbringe. Am Abend kühlt es etwas ab, sodaß das Atmen leichter fällt. Wir machen einen kleinen Spaziergang zur Grundschule, in die Jin Mi damals ging. Gegen 20 Uhr herrscht auf den Sportplätzen rings um die Schule ein reges Treiben und auch die Geräte, an denen sich allerlei Verrenkungen machen lassen, sind von Kindern in Beschlag.
Iksan ist wirklich eine häßliche Stadt, hier ist alles nur zweckmäßig - Beton, Werbung, Kabel und Autos - etwas anderes gibt es nicht. Meine Frage, ob Iksan zerbombt wurde, wird bejaht. Dann ist auch klar, warum es hier keine historischen Bauten wie z. B. in Jeongju gibt.


16. Juli 2010 - Der Kühlschrank

Unterwegs per Bus und zu Fuß, um für Schwiegermutter einen neuen Kühlschrank zu kaufen. So richtig fündig werden wir nicht, schließlich bestellen wir einen in einem großen Kaufhaus, weil es ein relativ kleines Gerät sein muß, das in die Einbauküche paßt.
Die Preise für Haushaltselektronik erscheinen mir niedrig und ich hätte gerne eine Waschmaschine mit nach Deutschland genommen, aber das geht leider nicht und so müssen wir unsere alte, gebraucht gekaufte, noch etwas schonen, um dann im Falle des Falles das Doppelte an Euro hinzulegen.
Endlich regnet es wieder, so hofft man auf ein wenig Abkühlung. Wenn die Monsunzeit vorbei ist, scheint nur noch die Sonne und es wird noch heißer. Ein Grund mehr, ins kalte Deutschland zurückzufliegen. Am Telefon hörte ich, daß es dort gerade ebenso heiß ist - kaum zu glauben.


17. Juli 2010 - Die Jagt nach dem Haegum

Um drei Uhr in der Frühe fängt es noch heftiger an zu regnen, sodaß wegen des Blechdaches im Nebenraum, in dem sich das einzige Fenster befindet, was nachts offen bleiben kann, weil es vergittert ist, kaum an Schlaf zu denken ist. Dazu kommt, daß wir recht früh nach Seoul fahren wollen. Dort treffen wir eine Freundin, die eigens für mich ihre Schwägerin mitgebracht hat, die in Sachen Heagum beraten kann. Sie studiert das Instrument seit vier Jahren und möchte helfen, ein solches für meine Klangerweiterung zu besorgen.
Im Bus muß ich mich dick anziehen, wegen der schrecklichen Klimaanlage, obwohl es trotz dem anhaltend starken Regen draußen warm ist. Es ist eine verrückte Welt,
genau umgekehrt, wie im Winter.
Nach etwa drei Stunden sind wir in Seoul. Nach einer Weile des Wartens in der ebenfalls zugigen und kalten Busstation, begrüßen wir die beiden. An die Busstation schließt sich die U-Bahnstation an, dort geht es gleich weiter. Was ich nicht ahne ist, daß mich der schwere Koffer den Rest des Tages beschäftigen wird. Ehe es den drei Frauen klar wird, daß der Koffer stört, habe ich schon mehrere Treppen bewältigt. Mir fällt ein, daß ich nun schon 23 Jahre für die Musik kämpfe und meine, daß hier ist es jetzt auch wert. Endlich, nach langer Odyssee finden wir ein Schließfach und mir fällt nicht nur ein schwerer Stein vom Herzen. Dann taucht auch die Oberfläche von Seoul auf, aber der Regen verhindert genaue Beobachtungen. Schon sitze ich in einem Musikgeschäft und die Schwägerin spielt das erste Haegum an. Mir wird sofort klar, daß das eigenartige Ding mit der kratzigen Frauenstimme alles andere (trotz seiner nur zwei Saiten) als leicht zu spielen ist. Außer einem kläglichen Krächzen bringt mein erster Versuch nichts. Und der Preis ist einfach nur für ein waghalsiges Experiment zu hoch. Ich denke schon an Plan B und probiere einige Blasinstrumente aus, aus denen ich keinen Ton bekomme, was mir bekannt vorkommt, schließlich hat es mit der Querflöte, die ich mir vor einigen Jahren beibrachte, auch drei Monate gedauert. Aber die Schwägerin ist fest entschlossen, mir ein Haegum zu beschaffen. Nach einem Mittagessen finden wir nicht weit entfernt ein weiteres Geschäft mit einer größeren Auswahl. Sie spielt und ich versuche herauszufinden, wie das Instrument gestimmt wird. Aber die Kommunikationsprobleme verhindern eine genaue Verständigung. Auch ist nicht klar, wie das zerbrechlich aussehende Instrument, welches mit einem Bogen gestrichen wird, nach Deutschland zu schaffen ist. Noch ehe ich entscheiden kann, es doch lieber zu lassen, ist das Ding inklusive Koffer, Ersatz-Pferdehaar und Kolophonium, gekauft. Der Preis, wenngleich von Schwiegermutter finanziert, bringt mir gleich ein schlechtes Gewissen, aber ich versuche mich etwas damit zu beruhigen, indem ich mir sage, daß es Zeit wird, dieses seltsame Instrument auch in Deutschland bekannt zu machen. Vielleicht kann ich ja einen kleinen Beitrag dazu leisten. Meine Musik jedenfalls könnte es etwas von der Synthetik nehmen. Es wird eine neue Herausforderung, das ist sicher.
Mit einem Gepäckstück mehr geht es wieder durch Seoul und durch den Regen Richtung Bus. So habe ich mir die Großstadt vorgestellt: Wolkenkratzer, Menschenmengen, Lärm, Licht, Reklame, schlechte Luft und die totale Reizüberflutung. Die U-Bahn ist hinter einer Glasscheibe versteckt, sodaß ich erst spät merke, was das ist. Erst als sich eine der Scheiben öffnet, wird dahinter die Tür der U-Bahn sichtbar. Überall finden sich Fernseher und extrem grelles Licht. Ich bin froh, daß ich nun im Bus sitze und wir nach etwas außerhalb der Großstadt fahren. Nach 10 Stunden mit dem Bus, per U-Bahn und Kofferschleppend durch Seoul erreichen wir die Wohnung einer weiteren Freundin.
Die Schwägerin hatte sich schon vor der U-Bahn verabschiedet und so bleibt wohl nur die Fachsimpelei über Haegums per Internet. Wenn es nur nicht das verfluchte "Babylonsyndrom gäbe!

Eine geräumige Wohnung im 14. Stock eines Hochhauses. Hier verbringen wir die Nacht, das heißt, das, was davon übrig bleibt.
Die Schwägerin erscheint und es gibt doch noch eine extra Unterrichtsstunde nebst einem Vorspielen - unglaublich, was sie aus dem Instrument herausholt.


18. Juli 2010 - Das Volksdorf bei Dunsan

Besuch des Volksdorfes bei Dunsan, Young-In, in dessen Nähe wir zu Besuch sind.
Endlich erhalte ich einen kurzen Einblick in die Geschichte des Landes und das gleich auf mehreren Quadratkilometern. Man hat hier historische Gebäude hergebracht und wieder originalgetreu aufgebaut. Auch Leute in historischen Kostümen verrichten alltägliche Arbeiten und kümmern sich um die Gärten und Häuser - sicher nicht die schlechteste Arbeit. So gewinnt man einen guten Einblick in das damalige Leben der Menschen. Das war sicher schwere Arbeit, hatte aber Stil - im Gegensatz zum modernen Leben. Ich sauge förmlich alles in mich auf, nur leider gibt es nicht die Zeit, alles zu sehen, denn das Gelände ist sehr groß. Was ich vermisse, ist, etwas über die historische Musik zu erfahren, das hätte doch sicher dazugepaßt. So bleibt es schwer, an Tonträger mit traditioneller klassischer Musik heranzukommen. Das "altmodische Zeug" interessiert eben kaum jemanden - hier geht Wissen verloren. Die allgegenwärtige, amerikanisch geprägte Schlagermusik verdrängt alles vollständig.
Am Abend ein weiteres Essen in einem noblen Restaurant, wo sich zu meinen Gunsten dann doch noch für Tische mit Stühlen entschieden wird. In die Tische sind Grille eingebaut, wo ein Diener glühende Kohlen einfüllt. Es ist ein sehr teures Essen, da es Fleisch gibt. Unser Gastgeberehepaar ist auch da und ihr Sohn, der sagt, daß ihm Gott den falschen Körper gegeben hat. Das Kind will nur mit Puppen spielen und gibt sich nicht gern mit Jungs ab. Gerne hätte ich über das Thema mehr in Erfahrung gebracht, aber darüber spricht man natürlich nicht. Jedenfalls glaube ich hier, daß es sich, ähnlich der Homosexualität um ein genetisches Problem handelt, welches sicher nicht therapierbar oder umerziehbar ist.
Fälle, wo dies gelang, sind mir noch nicht zu Ohren gekommen. Daß mittlerweile Homosexualität als normal oder gar erwünscht gilt, läßt eindeutige Rückschlüsse über den Zustand des Systems erkennen. Ein Verbot, wie dazumal in der DDR stellt aber auch nicht die Lösung dar, hier gehe ich von einer Krankheit aus. Und natürlich gibt es einen Unterschied, zwischen dem "Besitz" einer Krankheit und dem praktizieren von Perversitäten. Der Junge im falschen Körper jedenfalls tut mir sehr leid, wenn sich das nicht "verwächst", wird er ein Leben voller Leid vor sich haben, denn Toleranz ist nicht nur in diesem Land zu selten.


19. Juli 2010 - Blick Richtung Japan

Fahrt ans Meer nach der östlichen Seite hin. Insgesamt eine lange Fahrt, wieder über endlose Autobahnen. Es ist mir nicht mehr möglich, wach zu bleiben, zuwenig Schlaf gab es in den letzten Nächten. Der Strand hat einen gewissen "Ballermannflair". Also mehr etwas für die Partysüchtigen: Schnellbote jagen herum, blendendes Licht trotz des Sonnenscheins. In den dicht gedrängten Hotels und Restaurants laute Musik und Werbeansagen auf der Strandpromenade. Das Meer selbst ist eiskalt aber glasklar und mit fantastischen Farbenspielen, die wieder kreative Adern ansprechen. Der Sand hingegen ist ungewöhnlich grobkörnig aber sehr rein, keine Tiere sind zu sehen und auch kein Salzgeruch ist spürbar. Es ist, als hätte man alles gereinigt. Wären da nicht die sanften Wellen, die die Füße umspülen, würde man nicht glauben, wenn man die Augen schließt, daß man am Meer ist. Aber wir bleiben nicht lange - die Sonne wird zu heiß und einen der unzähligen, in endlosen Reihen stehenden Sonnenschirme wollen wir nicht mieten.
Die Stadtmenschen haben eine sehr große Unruhe in sich. Im Gegensatz zu Kangnung gefällt mir das westliche Meer auch viel besser - es hat noch mehr Natürlichkeit.
Am Horizont glaube ich Japan zu erkennen, als wir schon weiter landeinwärts fahren.
Nach einem Essen - diesmal im Freien - eine Wohltat, besichtigen wir ein Museum, das auf unserem Weg liegt. Ein reicher Sammler hat hier unglaublich viel von und über Edison angehäuft. Ausgestellt sind Phonographe, Grammophone, Spieluhren, Musikautomaten von gewaltigen Dimensionen (die ersten Sequenzer), frühe Studiotechnik bis hin zu Lampen und Haushaltsgeräten. Ich wußte nicht, daß Edison so viel erfunden hat - hier schließt sich eine Wissenslücke. Eines fällt sofort auf: Diese Dinge waren nicht nur funktionell, sondern sahen auch noch gut aus. Mit einer unglaublichen Liebe zum Detail wurden Geräten, Werkzeugen und selbst kleinen, scheinbar unbedeutenden Dingen ein ästhetisches Aussehen gegeben - hier wird sofort klar - daß es wie heute leider üblich - es damals nicht nur um das schnelle Geld ging. Beeindruckend ist, einmal den ersten Tonträger, nämlich einen Wachszylinder zu hören - der Vorläufer der Schallplatte. Auch konnten wir uns,
bevor es in Bälde abgeschafft wird, noch mal das angenehm warme und natürlich wirkende Glühlampenlicht anschauen, welches keineswegs durch die nicht nur für mich extrem unangenehmen und zudem noch gesundheitsschädlichen Energiesparlampen oder Neonröhren - hier alles durchdringend - ersetzt werden können. Wohl dem, der sich noch Restbestände sichern kann, bevor eines Tages (geht es nach der gefürchteten EU-Norm), uns im wahrsten Sinne des Wortes das Licht ausgeknipst wird.
Nach einem erstmals tatsächlich danach schmeckenden Kaffee und der Besichtigung historischer Gebäude ehemals reicher Leute, geht es zurück, viele Kilometer über die Autobahn.
Wieder zwei Abschiede. Erneut geht es mit dem Gepäck durch die Stadt und in die U-Bahn. Seoul bei Nacht wollte ich natürlich noch vor die Kamera kriegen und es ist genau so,
wie ich es mir dachte: Noch mehr grelles Licht, flackernde Leuchtreklame, laute Musik, hupende Autos, röhrende Motoren, sich drängende Menschen, heiße Luft draußen und kalte, künstliche drinnen. Nach einem Essen geht es per Auto quer durch Seoul. Die Autos fahren recht schnell, trotz der teilweise holprigen Straßen und halten kaum, da es selten Ampeln gibt. So sind Filme und Fotos kaum möglich, obwohl einige der Wolkenkratzer der Millionenstadt ein gutes Motiv abgegeben hätten.
Die Menschen sind alle gut gekleidet und zurechtgemacht. Solche Kleidchen, wie sie die jungen Mädchen tragen - ein Blickfang - und die extrem hochhackigen Schuhe, sieht man in Europa selten, da hat die Emanzipation doch schon zu viel Land gewonnen. Hier gibt es noch eine klarere Rollenverteilung, die stets sichtbar ist. Allerdings hat der amerikanische Einfluß, in den vier Jahren Abwesendheit meines kritischen Blickes, doch weiter zugenommen. Alles ist deutlich sexbetonter, auch junge Männer geben sich feminin,
erste großflächige Tätowierungen werden präsentiert und auch die ersten gedehnten Ohrläppchen sind sichtbar. Die Hohlnieten sind aber noch nicht so groß wie bei uns,
da habe ich schon 12-jährige Jungs mit drei Zentimeter Durchmessern gesehen. Ich würde gerne mal sehen, wie die irreparablen Eingriffe sich im Alter ausnehmen. Gespannt bin ich auch, wenn die ersten Lippenteller, Kinnpflöcke oder Halsringe auftauchen, denn die sind nach meinen Beobachtungen der einzig logische Schritt, weil es kaum noch Stellen gibt,
an denen nicht gepierct wird und auch die Tätowierungen kriechen bereits den Hals hoch in Richtung Gesicht. Ich bin gespannt, wo das noch hinführen wird - eine gewisse Faszination, die nicht unbedingt mit Ästhetik, wohl eher aber mit Erotik oder Fetischismus zu tun hat, kann man dem Thema nicht absprechen. Auch die ersten dicken Koreaner sind auszumachen - vor vier Jahren sah man noch deutlich weniger. Ich denke mal, daß sich das amerikanische Lebensgefühl auch hier immer mehr durchsetzen wird. Auch interessiert zu sehen, wie die Weltmacht systematisch alles um sich herum infiltriert, das ist hier ganz deutlich zu spüren. Allein, daß ich in den vier Wochen meiner Anwesendheit fast ausschließlich mit Englischlehrern - die übrigens auch nicht zwangsläufig immer Englisch sprechen - zu tun habe, deutet darauf hin. Man braucht auch nur durch die Straßen gehen, oder den allgegenwärtigen Fernseher einzuschalten, schon bestätigt sich, daß alles mehr oder weniger eine ungeniert deutliche Kopie des amerikanischen Lebensstils ist. Mein Schwager arbeitet jetzt - früher verkaufte er Schuhe - für eine Firma als Vorarbeiter,
die Lebensmittel verpackt und ausliefert. Zu Hause auf seinem Computer sehe ich alle Räume der Firma, in denen sich die Mitarbeiter bewegen, auf dem Monitor - "Big Brother is watching you"! Als ich das erste Mal die Verfilmung von George Orwell' s "1984" sah und später auch den Roman laß, ahnte ich noch nicht, daß die totale Überwachung so schnell und besser in technischer Hinsicht, Realität werden würde. Die allgegenwärtigen Teleschirme - auch im Fahrstuhl - lassen mich glauben, ich wäre mittendrin. Zu Hause im Garten lege ich mich manchmal nackt in die Sonne und stelle mir vor, wie die Mitarbeiter der Gedankenpolizei den Leberfleck auf meinem rechten großen Zeh, per Satellit beobachten und zu Protokoll nehmen. Was für ein Glück, ein uninteressanter Mensch zu sein!


20. Juli 2010 - Treffen der Geister

Wir verbringen den Tag bei Seol, um Schwiegervaters Totenfeier in Iksan zu verpassen.
So vergeht der Tag mit Warten. Ich fahre mit dem Schwager mit, der von seinem Chef ein Auto geschenkt bekommen hat. Neu ist es nicht mehr - aber: "Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul."
Nach einem kurzen, kühlen Abschied geht es per Bus und Bahn in Richtung Iksan. Ein Mann erklärt sich bereit, uns den Weg zum Bahnsteig zu zeigen. Wir erfahren, daß er in Seoul auf Arbeitssuche war - ohne Erfolg. Das kommt mir bekannt vor. Ohne den Mann wären wir heute nicht mehr nach Iksan gekommen, so kompliziert ist der Weg, der sich als Abkürzung erweist. Trotzdem hat sich mein linkes Knie für ein paar Tage verabschiedet, die Treppen und die schweren Koffer waren zu viel. Die alte Krankheit meldet sich wieder zu Wort und humpelnd schleppe ich den Koffer weiter die Treppen rauf und runter. Zum Glück gibt es noch hilfsbereite Leute. Der Zug erweist sich als fahrender Kühlschrank, sodaß ich lachen muß über soviel Absurdität: Da sitzen die Leute in dem grell erleuchteten Abteil, sodaß man die Welt draußen kaum sehen kann. Die Fenster lassen sich nicht öffnen, weil es einen solchen Mechanismus nicht mehr gibt und im Abstand von zwei Metern sind große Klimaanlagen, diese pusten eiskalte Luft raus, was die Technik hergibt. Ich denke sofort an Sabotage, als der Zug über das marode Schienennetz holpert. Als die Manipulation an irgendwelchen Reglern und Schaltern aber keinen Effekt hat, halten wir Ausschau nach dem Schaffner. Inzwischen ziehen wir alles an, was wir dabeihaben. Zum Glück habe ich immer einen Teil der "Flugzeugüberlebensausrüstung" im schweren Rucksack. Der Schaffner zeigt Einsicht und regelt wenigstens etwas menschenfreundlich nach. Es wäre tatsächlich in diesem Waggon kälter als in den übrigen. Ja, denke ich, die Teleschirme im Roman "1984" lassen sich ja auch nur von ganz wenigen, Privilegierten ausschalten. Ich denke an die sommerlichen Temperaturen draußen und schütte ein Bier in mich rein. Das andere bekam unser Führer, der uns den Weg zeigte. Den Platz dürfen wir nicht verlassen, der ist vorgegeben. Den Rest der drei Stunden Fahrt verbringe ich in einer Art Dämmerzustand, hervorgerufen durch Schlafentzug, Alkohol und natürlich Kälte. Durch den Rand der Sonnenbrille sehe ich, wie sich immer mehr Mitpassagierinnen ihre Miniröckchen zurechtrücken und sich wie wir mit allerlei Ersatzkleidungsstücken zu bedecken versuchen. So ganz divenhaft und kauzig sind wir wohl doch nicht, die anderen leiden eben nur stiller. "Man könnte doch die Passagiere vor der Fahrt komplett einfrieren, das spart Platz und Energie." Das Equipment dazu wäre jedenfalls reichlich vorhanden. Mit diesem Gedanken schlafe ich ein.

00:15 Uhr - Iksan Hauptbahnhof. Ein Taxi bringt uns zum Haus. Der Fahrer ist sauer,
weil meine Frau ihm den Weg beschreibt - sicher hätte er einen längeren gefunden. Schwiegervater steht, fein angezogen an der Haustür und schickt gerade den Geist von seinem Urgroßvater wieder ins Jenseits, indem er ein Papier mit seinem Namen darauf verbrennt. Wir kommen also gerade rechtzeitig zu spät. Ein wenig unheimlich ist es trotzdem noch, als wir das Haus betreten. Der Tisch vor Schwiegervaters Zimmer ist reich mit Nahrung gedeckt, weil Urgroßvater all das Gute in seinem Leben entbehren mußte.
Kurz vor Mitternacht wird der Geist gerufen, mit Beschwörungsformeln beschwichtigt und nach Mitternacht wieder durch das Verbrennen des Papiers zurückgeschickt. Ein alter Mann - ein Verwandter und des Scwagers Sohn sind noch anwesend. Zu tun gibt es ja genug beim Zubereiten der Speisen. Der Hauptteil der Arbeit liegt aber bei Schwiegermutter,
die das allein besorgen mußte. Ein Verbesserungsvorschlag vom Schwager, nach dem, anstatt 12 Mal im Jahr das Ritual zu veranstalten, lieber, zugunsten der Lebenden, einmal im Jahr alle Geister zu einem Fest zu versammeln, wurde abgelehnt. Schwiegervater ist sehr streng in seinem Glauben, aber die Angehörigen haben sich schon alle abgewandt, jedenfalls seine Söhne und Töchter. Mein Schwager hat sich auch erstmals verweigert, weshalb er kurz danach mit Ignoranz bestraft wird. Bei allem Respekt vor dem Glauben der Anderen - schließlich erwarte ich den ja auch - möchte ich solch fordernden und zornigen Geistern nicht dienen und schon gar nicht ihr Essen haben, von dem nun reichlich als Abfall für die Lebenden übrig ist.
Zurück im Obergemach, das ich schnellstens heimsuche, finde ich die Zudecke zerwühlt auf dem Boden vor. Unheimlich! Aber der Schlafentzug der letzten Tage läßt keinen Platz mehr für derartige Sorgen.
Toleranz heißt auch, mich Dinge nicht tun zu lassen. Durch das Fehlen von Toleranz aber ist ein ständiger Unfrieden im Hause, gerade so, als hätte sich einer der Geister hier eingenistet.
Ungeachtet all dessen, halte ich es für pure Arroganz der Menschen, zu glauben,
sie besäßen die Macht, Geistern bzw. Dämonen zu gebieten, ein- oder auszugehen.
Da ja auch Atheisten an außerirdische Lebensformen glauben, liegt es nahe, bei deren Existenz, ihnen wenigstens eine größere Macht zuzutrauen. Dann werden auch sogleich die möglichen Gefahren ersichtlich.


21. Juli 2010 - Memi

Wieder es sehr heißer Tag. Wir fahren mit Jdem Schwager, um Meeresfruchtprodukte einzukaufen, danach humpele ich zum E-Mart, um Waren des täglichen Bedarfs zu holen. Es muß verfressen aussehen, da täglich aufzutauchen, aber so ist das nun mal ohne Auto. Die Memi (Zikade), ein Kakerlakenartiges Insekt, welches die Bäume bevölkert, stößt ein schrilles Zirpen aus, welches mich an Elektrizität erinnert. Es handelt sich aber um solche Tiere, welche neulich im Wald von Jeongju am Berg der Heilung, die wunderlichen Laute ausstießen.
Der Kühlschrank trifft ein. Nun sind wir wieder frei für neue Abenteuer. Einmal richtig zum Meer sollte schon sein.


22. Juli 2010 - Die Besten am Platze

Beim Fleischer um die Ecke holen wir etwas Rindfleisch für das Mittagessen. Es ist der beste Fleischer in der Gegend und sein Inhaber soll schon Millionär sein - sagt man sich. Immerhin hat er ja die ganzen umstehenden Häuserblocks zu versorgen. Es ist nur ein kleiner Laden. Ein alter Mann sitzt in einer Ecke, seine Hose ist mit einem groben Strick festgebunden. Auf der unbenutzten Glasvitrine der Ladentheke liegt ein dickes Holzbrett mit einem Klumpen Fleisch darauf, bei dem ich mich frage, wie lange der schon liegt. Sauberkeit ist hier kein Thema - es gibt sie nicht. Der Ladenbesitzer öffnet eine große Kühltruhe voller Schweine- und Rindshälften und schneidet ein Stück ab, wenigstens Handschuhe hat er angezogen. Dann zerlegt er alles in kleine Scheiben, ehe er sich am Tisch nebenan eine neue Zigarette anzündet. Seine Frau kommt und beginnt ein Schwätzchen. Ich erfahre, daß sie ihre körperlich und geistig schwer behinderte Tochter am liebsten nach Deutschland oder Amerika schicken würde - ich plädiere für Amerika, sie kennen ja noch nicht das marode, deutsche Gesundheitssystem. Die Ladentheke, der Tisch und das gesamte Ladeninnere sind mit einer flächendeckenden Schmiere überzogen, so als wäre hier noch niemals ein Lappen drübergegangen, ebenso sieht auch die Schürze der Frau aus. Zudem sind auf der Ladentheke Blutstropfen und Spuren von Blutwasser - zumindest läßt sich so auch der süßliche Geruch im Laden erklären. Schnapsflaschen, der obligatorische 25-prozentige Getreideschnaps, liegen herum. Ohne den sollte man das Fleisch auch nicht essen, immerhin aber scheint es mir ja bis jetzt bekommen zu sein. Trotzdem gehen mir wieder die Gedanken durch den Kopf, Vegetarier zu werden, aber das hilft ja auch nichts. Es ist in Korea mit der Sauberkeit und Ordnung wie mit allen Dingen so ein Yin und Yang - entweder oder, und selbst hinter dem vornehmsten Hotel finden sich oft stinkende Müllhalden. Die Fleischtheke im E-Mart hingegen ist rosa beleuchtet und ein Diener am Eingang verbeugt sich tief. Tolerant sollte man schon sein - auf jeden Fall auch beim Essen. Dem Europäer fällt es auch sicher nicht leicht, schon zum Frühstück Reis,
Fisch und Kimchi zu essen. Als wir gehen, hängt die Frau den Fleischklumpen zu den anderen in die Kühltruhe.

Am Nachmittag fahren wir mit dem Schwager nach Mag Sa Mo um Makgeolli (Reiswein) zu trinken. Das fünf Prozent Alkohol enthaltende Getränk ist stark vergoren und schmeckt für mich fürchterlich - nachdem ich mir neulich in der Kneipe einen kleinen Becher reingezwungen hatte, beschloß ich, es nicht noch mal anzurühren. Das Getränk wird in einer Blechkanne serviert - ich hätte sie zum Wasserkochen verwendet. Den meisten Besuchern geht es aber nicht nur um das traditionelle Getränk, sondern um die Beilagen. Jin Soep zerschneidet mit einer großen Schere einen Tintenfisch, dazu gibt es Kaviar,
Kimchi, Fisch, Fleisch und Salate. Ich muß leider wieder das teure Mekzu (Bier) bestellen und hoffen, daß die anderen mir das meiste aus der Flasche übriglassen.
Einem hoffnungslosen Alkoholiker empfehle ich als letzte Hoffnung Süd-Korea.
Als wir den Raum der Kneipe betreten, fällt mein Blick zuerst an die geteerte Betondecke, an der zahlreiche Spinnenkokons kleben, nebst unzähligen Spinnen und ihren Netzen; dann zu den Fenstern, die wohl noch nie geputzt wurden. In den Kochvorrichtungen im Tisch sammelt sich jede Menge Abfall. Wenn die Spinnen in den Kokons noch alle schlüpfen, ließe sich das auch noch gewinnbringend vermarkten - etwa für Gruselfans. Trotzdem:
Es ist die im Umkreis beliebteste Makgeolli-Kneipe, erfahre ich. Den Anderen jedenfalls schmeckt es. Und man starrt ja auch nicht überall herum, dazu gibt es doch den Teleschirm.
Der Tag ist noch heißer als der gestrige, heute steht mir wieder allein vom Liegen der Schweiß auf der Stirn. Ich will mich möglichst wenig bewegen. Jin Mi schaltet die Klimaanlage an. Ich warte draußen und überlege, wie ich die Nachtluft mit möglichst wenig Kompromissen atembar machen könnte.


23. Juli 2010 - Sarkasmus

Einkaufen in Iksan. Wieder führt unser Weg durch schmale und verwinkelte Gassen und über Märkte mit Unmengen Obst - Weintrauben, so groß wie Pflaumen. Die Läden selbst sind nur zweckmäßig eingerichtet und Staubwischen ist ein Fremdwort. Den Obstständen sieht man an, daß die Inhaber hier ihr ganzes Leben verbringen. Es findet sich da das Kochgeschirr, der Reiskocher und natürlich der Fernseher, der Tag und Nacht in Betrieb ist. Irgendwie ist alles auch manchmal etwas sarkastisch - jedenfalls könnte man es so deuten: Da frist ein Hund, der zu einem Reifengeschäft gehört, sein Futter aus einer Radfelge.

Man trifft überall Bekannte und ohne einen kurzen Plausch geht es nicht weiter, so kommen wir nur langsam vorwärts. Mittlerweile kenne ich einige Wörter. Die Gespräche drehen sich meistens um ein und dasselbe, das Aussehen und ob ich Amerikaner sei.
Aber dann fällt das Wort "Dogil" (Deutschland) und alle staunen trotzdem über mich -
so Einen wie mich hat man hier in der Provinz noch nie gesehen. Am meisten beeindrucke ich die Kinder.


26. Juli 2010 - Das Land der fehlenden Möglichkeiten

Mein Schwager bringt eine Wage, damit wir unsere Koffer wiegen können, es ist eine alte, analoge, für Gemüse und sie geht bis 30 kg - genauso viel, wie wir pro Person mitnehmen dürfen. Ich verpacke schon mal alles probeweise und stelle fest, daß noch etwas Platz ist.
Am Nachmittag kaufen wir im E-Mart noch einige Kleinigkeiten und ich nutze die Gelegenheit, um noch ein paar Fotos zu machen. Ich habe mich wieder sehr bemüht,
hinter die Kulissen zu schauen und vor allem Dinge sichtbar zu machen, die ein Tourist wohl eher selten zu Gesicht bekommt. Auch der Hund vom Reifenhandel, der aus der Radfelge frißt, wenn er denn überhaupt etwas bekommt, der hellerleuchtete Prunk im E-Mart gleich nebenan, die Fleischerei mit der Ekelgarantie und der Fischverkäufer, der zwischen den Kunden im Feldbett liegend fernsieht, kommen mir noch vor die Linse.
Eigentlich bin ich startklar und seit einigen Tagen beginne ich gewisse Dinge stark zu vermissen. Das Thema "Ein neues Leben in Korea anfangen" wurde von Vielen an mich herangetragen und ich habe natürlich - auch in Anbetracht meiner schwierigen Situation in Deutschland - darüber nachgedacht. Zeit war ja genug während der über vierwöchigen Reise ins Innere. Ich sehe nun auch die Probleme meiner Frau deutlicher: Die Mühe mit der schwierigen Fremdsprache, das ungewohnte und oft auch unverträgliche Essen, kaum Freunde, wenig bis keine Perspektiven, die Trennung von Familie und Freunden, die fremde Kultur und, und, und. All das würde mich hier erwarten. Und noch ein weiteres Phänomen tritt hinzu: Heimweh, gnadenloses und bitteres Heimweh! Ich habe dies sehr genau beobachtet und glaube, daß, auch wenn manche behaupten, sie hätten kein Problem damit, es diesen Schmerz gibt und diese unsichtbaren Wurzeln, die den Menschen mit seiner Heimat verbinden. Ich jedenfalls habe immer schon ein starkes Heimatgefühl gehabt, welches mich immer am Weggehen hinderte, und das, obwohl die Lage vor Ort schwierig war und die Verlockungen im Westen groß. Auch hier gibt es diese Verlockungen: Geld, eine richtige Arbeit, schönes Wetter, gesünderes Essen, scheinbar nette Menschen, die mich sehr mögen. Sofort könnte ich Arbeit und Wohnung bekommen, sagte man mir. Aber es zieht mich in diese verfluchte Heimat, dorthin, wo ich ein Nichts bin, ein armer Sklave eines Verbrechersystems Namens "Die große Maschinerie. Und doch hält es mich nicht hier, das war mir schon am ersten Tag klar. Vier Wochen lang hoffte ich auf die zündende Idee, was ich nur tun könnte, um zu überleben - aber sie kam nicht. So kommt es wohl wie es kommen muß: Rückkehr ins Land der fehlenden Möglichkeiten.
Vielleicht sollte ich mich damit trösten, jederzeit in Süd-Korea Arbeit finden zu können.
Da fällt mir der Mann ein, der erfolglos aus Seoul zurückkam.


27. Juli 2010 - Neuland unter dem Meer

Mit meinem Schwager fahren wir noch einmal ans Meer, dorthin, wo es am Schönsten ist, wo die Natur mit Ebbe und Flut auf den Felsen mit den Farben und Formen und den unzähligen Lebewesen inspiriert. Endlich einmal schwimmen - das Wasser ist schön warm. Während die Beiden unter einem Felsen warten, suche ich mir eine schöne Stelle zum Schwimmen, da, wo keine Felsen sind, denn die sind gefährlich, wenn man sie im Wasser nicht sieht und dann hängen bleibt. Eine ganze Strecke klettere ich, aber nichts bleibt hier unbeobachtet und ein Wächter verweißt mich auf den zum Schwimmen eingegrenzten Bereich. Aber da habe ich "illegal" meine Runde schon geschafft. Die Hochsaison hat begonnen und immer mehr Leute kommen trotz der extremen Hitze zum Strand. Die Flut läßt uns nicht lange verweilen. Noch länger hätte ich auf dem flachen Felsen von Zesok Gang unzählige, interessante Fotos machen können, aber unsere Zeit ist um.
Die Flut vertreibt bald auch die letzten Wanderer.
Auf dem Rückweg nach Iksan nehmen wir eine andere Straße, sie teilt das Meer mit dem Land - unendliche Flächen werden hier dem Meer entrungen. Industriegebiete sollen hier entstehen mit noch mehr Technologie, künstlicher Luft und Beton. Das Meer aber läßt sich nicht so einfach zurückdrängen, sicher sucht es sich einen anderen Weg - meistens dann dort, wo man es nicht haben will, und keine Dämme werden es dann hindern.
Ein wenig seltsam ist es nun doch, die Zeit ist um und wir sitzen auf gepackten Koffern. Was anfangs wie stillstehende Zeit erschien - besonders für mich allein im Obergemach - erweist sich nun als "recht schnell vorbei". Aber so ist das mit dem Phänomen Zeit, es ist nicht linear. Wieder ist das Thema Süd-Korea nur angerissen, trotz dieser längeren "inneren" Reise, es sind nur Schnappschüsse, kurze Ausschnitte und die auch nur aus meiner Sichtweise. Sicher habe ich Vieles wieder falsch verstanden, falsch interpretiert und Mißverständnisse auch noch schamlos ausgeschmückt - der Leser verzeihe mir.
Na, wenigstens ein paar nette, kleine Geschichten sind trotzdem herausgekommen. Sicher wäre es interessant, einmal alle Mißverständnisse aufzuklären, denn solche entstehen schnell, wenn man der Sprache nicht mächtig ist. Der "Seeräuberkapitän" ist übrigens nicht der Besitzer der Pizzeria - nur um einmal eine Sache richtigzustellen. Die anderen Geschichten lasse ich einfach mal so stehen. Ein etwas anderer Reisebericht ist es trotzdem geworden - nicht mehr und nicht weniger. Die Heimreise trete ich jedenfalls wieder mit einer gehörigen Portion Erfahrung, etlichen neuen Erkenntnissen, einem neuen Instrument für neue Töne, vielen Fotos und natürlich schönen Erinnerungen an.


28. Juli 2010 - Fremde Welten

Um 4.30 Uhr ist die Nacht zu Ende und mein Schwager fährt uns zur Busstation.
Der Abschied war kurz und schmerzlos - gut gegen Emotionsausbrüche.
Der Flug von Inchoen über Shanghai, Novosibirsk, Jekaterinburg, Moskau, Vilnius, Warschau, nach Frankfurt verläuft ruhig und es wird in den 10 Stunden nicht dunkel.
Der Kapitän kündigt in zwei Stunden Turbulenzen an, die aber weitgehend ausbleiben - zum Glück für meine Nerven. Diesmal bekomme ich den Monitor, der in den Sitz eingebaut ist, zum Laufen, sodaß ich die Position der Maschine ablesen kann, so habe ich den Eindruck, daß die Reise nicht so lang ist. An Essen und Trinken verschlinge ich alles.
Die Unruhe versuche ich mit reichlich Alkohol zu dämpfen - sogar Whisky gibt es kostenlos.
Pünktlich landen wir und haben noch eine lange Nacht auf Bahnhöfen und in Zügen zu verbringen. Der Kampf gegen die Müdigkeit ist fast nicht mehr zu gewinnen. Interessanterweise hat diesmal meine Frau mehr mit dem Jetlag zu kämpfen als ich.
Sollte sich der Körper noch jahrelang seinen natürlichen Biorhythmus merken?
Für mich ist das wieder ein Indiz, daß der Mensch doch so etwas wie Wurzeln hat,
die immer im Mutterboden bleiben sollten.

Nun hat uns der Alltag mit seinen Sorgen wieder, wahrscheinlich schneller als gewollt - aber das ist eine gänzlich andere Geschichte, die sicher kaum lesenswert erscheint.

Dornheim - Iksan, Iksan - Dornheim, 25. Juni - 28. Juli 2010.

(leicht gekürzte Fassung)

Mario Höll, 5. November 2010


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Auf der Suche nach dem göttlichen Ton

In den frühen 80er Jahren hatte ich ein Schlüsselerlebnis beim Musikhören unter Kopfhörern. Ich hatte mich hingelegt, den Raum verdunkelt und die Augen geschlossen. Meine damalige Lieblingsmusik, die ich schon hunderte Male gehört hatte, war keine so ungewöhnliche. Wohl im Zustand zwischen Wachen und Schlafen sah ich plötzlich fantastische Strukturen mit einer unglaublichen Tiefe und Farbenvielfalt, die sich beständig veränderten und ineinanderflossen - und das völlig ohne Drogen! Natürlich wollte ich das wieder und wieder erleben und mit geeigneter Musik gelingt das auch heute noch.
Dieses Erlebnis war die Initialzündung, selbst Musik zu machen, nämlich welche, die sich
für solcherlei musikalische Meditationen eignet, die beim Hörer Bilder im Kopf entstehen läßt und vielfältige Stimmungen erzeugt. Also forschte ich Jahrzehnte lang nach und machte unzählige Aufnahmen sehr unterschiedlicher Musik. Eines blieb aber immer gleich:
Die Suche nach dem "göttlichen Ton". Wie dieser genau klingt, weiß ich natürlich selbst nicht, ich bezeichne hiermit einmal Tongemische, die außerhalb des Bekannten liegen,
nicht nur die Phantasie des Hörers anregen, sondern ihn auch in einen entspannten Zustand versetzen. Zunächst fand ich diese Momente durch die Improvisation, indem ich jegliche musikalischen "Gesetze" verwarf und Harmonik und Rhythmik völlig neu durch Zufall anordnen ließ. Am Anfang kamen mir mitunter sogar fehlende musikalische Kenntnisse zu Hilfe, denn dadurch ging ich völlig unvoreingenommen heran - so entstand neue Musik. Natürlich ist klar, daß Derjenige, der schon einmal in seinem Leben bewußt Musik wahrgenommen hat, nicht völlig unbeeinflußt komponieren kann. Völlig Neues würde wohl von einem Menschen kommen, der noch nie zuvor Musik gehört hat. Also hatte ich nur die Möglichkeit, das Geschaffene irgendwie neu anzuordnen, zu strukturieren und zu mischen. So entsteht dennoch im Laufe der Jahre eine sehr eigenständige Musik, die zudem durch weit gesteckte Grenzen recht vielfältig ist. Die lyrische und textliche Ebene kommt noch ergänzend hinzu. Wichtig ist, daß bei allen Stück für Stück und über die Jahre gewonnenen Erkenntnissen noch Platz für das Experiment bleibt. Der göttliche Ton wurde auch nicht in jeder Aufnahme gefunden. Ab und an aber blitzt er auf und sticht dann deutlich heraus. Das provoziert natürlich wieder die berechtigte Frage, wie man diesen gezielt "komponieren" könnte. Auch im fast 30. Jahr meiner Forschung kann ich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Eines ist jedoch sicher: Er existiert, man muß ihn nur zutage fördern! Und auch der Hörer selbst ist aufgerufen, er interpretiert das Gehörte und konstruiert alles neu. Der Komponist bietet dazu die Projektionsfläche.
Im Folgenden zeige ich ein paar Möglichkeiten auf, die es erleichtern, neue, spannende
und emotional facettenreiche Klänge bzw. Musik zu erschaffen:

Überlagerungen durch Transponieren von Akkorden

Bei normaler "Gebrauchsmusik", wie man sie z.B. täglich im Radio hört, fällt auf, daß
alles irgendwie gleich klingt. Das ist auch so, denn hier werden ein paar wenige Akkorde verwendet und das von den meisten Gruppen in ihren meisten Liedern. So will man sichergehen, daß diese genormten Lieder auch schnell zu Hits werden, da darf man keine Kompromisse eingehen aber schränkt sich dadurch enorm ein.
Experimentiert man nur ein wenig mit dem Transponieren von Akkorden, eröffnen sich plötzlich Welten! Nimmt man dazu noch einen komplexen, nicht so abgenutzten Akkord, verschiebt ihn um wenige Halbtöne und überlagert ihn mit weiteren rhythmischen Elementen oder weiteren Akkorden, wird schnell klar, daß man sich bereits auf der Schwelle zu einem unendlichen Klanguniversum befindet. Relativ einfach umzusetzen ist dies etwa mit Sequenzern. Es ist auch wichtig, vorgegebene Akkorde möglichst zu vermeiden,
besser ist es, durch Probieren neue zu schaffen.

Alternative Stimmungen

Unser Ohr hat sich auch an die seit 1939 bestehende Stimmung gewöhnt. Damit wurde der Kammerton A auf 440 Hz festgelegt. Früher war dies anders, es existierten nämlich verschiedene Stimmsysteme - in verschiedenen Erdteilen erst recht. Über das Thema allein gibt es zahlreiche wissenschaftliche Studien, auch Verschwörungstheorien, die Bände füllen. Greift man jedenfalls auf alternative Stimmungen zurück oder entwirft gar eigene, erweitern sich ebenfalls enorm die Möglichkeiten und man gerät in weite, noch unerforschte klangliche Gefilde, Akkorde klingen plötzlich faszinierend neu und anders.
Um eine Ahnung davon zu bekommen, höre man einmal mittelalterliche Werke (soweit man die rekonstruieren kann) oder asiatische Klassik. Natürlich gibt es auch neuere Komponisten, die dies anwenden, nur sind die aus Gründen, die ich weiter unten nenne, wenig bekannt.

Improvisation

Die Improvisation ist das wichtigste Mittel, neue Musik zu erschaffen, sei es auf der Klangfarben- oder Melodieebene, denn es gibt keine Notenschrift, mit der man alle wichtigen Parameter aufzeichnen könnte, um gezielt zu komponieren. Im Grunde dient eine Notenschrift ja nur der groben Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Musikern,
die etwas nachspielen wollen. In einer gemeinschaftlichen Improvisation entstehen oft per Zufall einige spannende Momente, die sich dann in einer Komposition weiterverarbeiten lassen. Man sollte vorher zur Ruhe zu kommen und dann versuchen, momentane Emotionen in Töne umzusetzen. Auch findet im Idealfall eine Interaktion der Musiker untereinander statt, dadurch entstehen hoch interessante aber oft nicht wiederholbare Passagen - schade, wenn da das Aufnahmegerät mal nicht mitläuft!

Synthese

Es gibt Synthesizer, mit denen man tief in die klangliche Ebene eingreifen kann (z.B. mit Hilfe der Additiven Synthese oder mit komplexen Modularsystemen). Nur hier hat man auch die Möglichkeit, alternative Stimmungen zu benutzen. Das Ergebnis sind bei Bedarf sich ständig verändernde Sphären, die bei Überlagerung mit weiteren Ebenen, ebenfalls in unerforschtes Gebiet führen. Leider haben viele Normalhörer von Synthesizern eine klischeehafte Vorstellung, welche daher rührt, daß man allerorts tonnenweise mit den immer gleichen, vorgefertigten Klängen bombardiert wird. Dabei schlummern in den komplexeren Synthesizern noch immer Millionen unentdeckte, faszinierende Klänge,
die nur gehoben werden müßten. Natürlich muß man für das Programmieren eines besonders interessanten Klanges, der sich dann auch noch gut spielen läßt, einiges
an Zeit investieren.

Dimensionen

Das Mischen mit anderen Kunstformen und das Aufführen der neuen Musik an das Auge ansprechenden Orten, erweitert unsere Wahrnehmung um weitere Dimensionen.
Was hier zählt ist das Gesamtkunstwerk, das einzigartige Erlebnis, welches zu tiefen Emotionen führt. Ich hatte die Möglichkeit, meine Musik in Liquid Sound aufzuführen und erkannte, daß sich beim Schweben in Licht und Klang in körperwarmer Sole enorme Möglichkeiten auftun, die Dimensionen der Wahrnehmung zu erweitern. Gerade auch durch bewußtes Hören erweitert man seinen Horizont. Viele nehmen Musik und Klang nur als eine Art Hintergrundberießlung wahr und verbauen sich dadurch unbewußt viele schöne Erlebnisse. Klassische Musik und auch etliche Alben aus den 70er Jahren sind als Konzeptwerke angelegt, das heißt, sie folgen einem Thema und sind auf die gesamte Albumlänge so konstruiert, daß man sie als Ganzes betrachtet, es gibt Spannungsbögen, ein Auf und Ab zwischen Ruhe und Spannung. Alle Alben, die ich mit meinem Projekt Balsamfieber realisierte, sind auf diese Weise gemacht.

Erkenntnis und Mut

Leider ist im derzeitigen Hochkapitalismus alles kommerzorientiert, was unsere Möglichkeiten sehr einschränkt. Wir unterliegen einem ständigen Kampf gegen Lärm und Streß, die Zeit ist ständig unser Feind und die meisten von uns sind von finanziellen Erwägungen abhängig. Den meisten so dauergestreßten Mitmenschen ist nicht bewußt, wie sehr ihnen eine dringend benötigte Balance im Leben fehlt, sie haben eine verkümmerte oder gar nicht ausgebildete Ästhetik. Die Freude am Schönen und Interessanten und die nötige Wahrnehmung fehlen ihnen, deshalb ist ein gutes Buch oder eben heilsame Musik etwas, was man ihnen nahelegen möchte, es aber meist nicht vermag. Aufklärung täte da not! Wie aber will man Menschen erreichen, die nicht mehr lesen und die Notwendigkeit, die Natur und die gemachten Dinge darin zu erkennen nicht haben? Die Natur des Menschen sind Neugier und Kreativität, Dinge, die ein unmenschliches System wie das unsere verzerrt darstellt oder gar zu verhindern sucht. Kranke Menschen sind eben leichter zu manipulieren und abhängig zu machen,
sie konsumieren das, was man ihnen vorsetzt und sei dies auch noch so eintönig und beschränkt, denn sie wissen es nicht besser. Es bleibt zu wünschen, daß auch denen eines Tages ein Schlüsselerlebnis widerfährt, daß sie den Mut aufbringen, ihr Universum zu ergründen, damit den Sinn des Lebens erkennen und ausbrechen aus der Monotonie mit ihren mittels Verkaufsanalyse festgelegten Farben, Formen und Tönen, hin zu neuen Horizonten.

Mario Höll, 9. Mai 2014




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